Radikal
teils weil das Leben in der damaligen Mauernähe günstig gewesen war. Und teils natürlich, weil so viele ihrer Freunde schon hier lebten. Heute waren sie Lehrer oder Journalisten oder Gewerkschaftler, Sozialarbeiter, Schriftsteller oder Kleinunternehmer. Ein paar schlugen sich als Künstler durch, viele arbeiteten ausgerechnet in der Werbung. Sie pflegten einen gefühlt linken Lebensstil, der eine Mischung aus gut getarnter Bürgerlichkeit, Eskapismus und sozialem Engagement war.
Gutmenschen : Das war das seit Jahren gängige Label für sie, aufgepappt vor allem von jenen, die früher selbst dazugehört hatten und sich nun über ihren eigenen früheren Idealismus lustig machten, der ihnen abhandengekommen war. Warum war er ihnen eigentlich abhandengekommen, fragte sich Sumaya. Wahrscheinlich, dachte sie, waren ihre Söhne in der Schule von »Mitschülern mit Migrationshintergrund« beklaut worden. Oder es war ein Ehrenmord zu viel passiert, um ihren Glauben an die Zivilisationsfähigkeit der Menschen vom östlichen Mittelmeerrand aufrechtzuerhalten. Oder eine Moschee wollte allzu nah an ihrem Balkon ein Minarett errichten.
Sumaya erschrak über sich selbst. Da war mehr Wut in ihr, als sie geahnt hatte. Oder war es Enttäuschung? Sie hatte mit den Gutmenschen jedenfalls kein Problem, sie waren ihr deutlich lieber als jene, die sich so absichtsvoll von ihnen distanzierten.
Parallel zu den aus ungeklärten Gründen häufig aus Schwaben stammenden »Gutmenschen« hatten sich freilich ebenso zahllose echte »Migranten« in Kreuzberg niedergelassen. Auch das war so ein Modewort, es hatte die »Ausländer«, zu denen ihre Eltern gezählt worden waren, und die darauf folgenden »ausländischen Mitbürger« oder »Bürger mit Migrationshintergrund« ihrer eigenen Generation abgelöst. Mittlerweile, dachte Sumaya halb belustigt, als sie an einem Kindergarten vorbeilief, wurde offenbar schon das nächste Label kreiert. Denn im Fenster hing ein Zettel, demzufolge die Einrichtung einen Platz für ein »Vielfaltskind« zu vergeben habe. Eigentlich kein schlechter Begriff, dachte sie.
Mittlerweile war sie fast an ihrem Ziel angekommen, nur noch ein paar Schritte. Das Wahlkreisbüro von Lutfi Latif lag im Erdgeschoss des Altbaus, sie erkannte es daran, dass an der Glastür eines seiner Wahlplakate hing. Sumaya hielt kurz inne, sammelte sich, und betrat dann das Büro.
Dafür, dass es gerade erst eingerichtet worden war, wirkt es schon völlig fertig, war ihr erster Gedanke, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und die Räumlichkeiten in Augenschein genommen hatte. Das Büro war offensichtlich auf Funktionalität und Schlichtheit ausgerichtet und bestand, so weit sie sehen konnte, aus nur einem einzigen, lang gestreckten Raum. Die linke Wand säumten elegante dunkelbraune Holzschränke, in denen einige verlorene Aktenordner standen. An der Stirnseite machte sie einen aus demselben Holz gemachten großen Schreibtisch aus. Mitten im Raum stand ein kleinerer viereckiger Tisch, daneben drei schlichte Holzstühle im selben Braunton. An der rechten Längswand fiel Sumaya eine gerahmte arabische Kalligrafie ins Auge: »Bismillah ar-Rahman ar-Rahim«, Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers . Daneben hing eine überdimensionale Weltkarte. Einen Moment lang fragte sich Sumaya, ob niemand hier wäre.
Doch dann öffnete sich neben der Weltkarte plötzlich eine Tür, die sie zuvor übersehen hatte, und in einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug gekleidet kam Lutfi Latif lächelnd auf sie zu. »Sumaya al-Shami?« Lutfi Latif reichte ihr beide Hände. »Es freut mich, dass Sie es einrichten konnten. Herzlich willkommen!«
»Danke sehr, ich freue mich, dass Sie mich hergebeten haben.«
Jetzt , sagte sich Sumaya leise vor, jetzt ist der Moment gekommen, an dem du souverän und konzentriert sein musst!
Mit einer Geste lud der frischgebackene Abgeordnete Sumaya ein, an dem Besprechungstisch Platz zu nehmen. Erst als sie saß, setzte auch er sich, ihr gegenüber.
»Sumaya al-Shami, geboren in Damaskus, palästinensische Eltern, aufgewachsen in der Nähe von Oldenburg, 28 Jahre alt, Politikstudentin im 12. Semester. Sie sprechen Arabisch, Englisch und Deutsch sowie ein wenig Französisch«, referierte Lutfi Latif mit halb geschlossenen Augen einige Eckdaten aus ihren Bewerbungsunterlagen. Dann öffnete er seine Augen wieder, blickte Sumayadirekt an und sagte: »Interessant. Sie möchten für mich arbeiten.
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