Radikal
Flugzeugträger ausgelaufen war. Afghanistan, Hindukusch, Trainingslager, Anthrax: Es war, als liefe am unteren Rand des Lebens neuerdings ein Laufband in Endlosschleife, immer neue Informationen, und dabei hatte man doch noch nicht einmal seine Gefühle sortiert.
Sumaya war einkaufen gewesen an jenem Tag, sie wollte einen Kuchen backen, nichts weiter, einen einfachen Schokoladenkuchen für Fadi zum Geburtstag. Mehl, Eier, Butter. An der Kasse überreichte sie dem Kassierer ihre EC – Karte, eine ganz normale Bankkarte von der Sparkasse Oldenburg für einen völlig normalen Einkauf. Aber auf der Karte stand auch ihr nicht ganz so normaler Name, und die Karte funktionierte aus irgendeinem Grund an diesem Tag nicht, sodass der Kassierer sie mehrmals durch die Maschine ziehen musste, aber erfolglos.
Schließlich sah der Mann sich die Karte genauer an. Aus seinen kleinen runden Schweineäuglein wurden langsam Schlitze. »Aha. Sind Sie eine von denen, oder was? Gefälschte Karte oder was?«
Es war nur eine dumme Bemerkung eines dummen Kassierers. Nichts weiter. Aber hinter Sumaya standen etliche genervte Kunden, die auf einmal gar nicht mehr genervt waren, sondern höchst angespannt, und in Sumayas Nacken begann es zu kribbeln, und sie war plötzlich auch angespannt, sehr angespannt sogar, und sie wurde schlagartig wütend, so wütend, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Und Sumaya griff das Mehl, das sie hatte bezahlen wollen, und warf es in die Luft, ein Impuls, ein Affekt, und als die Papiertüte schließlich auf dem Boden zerplatzte und das Mehl nach allen Seiten stob, da schrie sie: »Ja ganz genau: Ich bin eine von denen! Und ich habe euch etwas Anthrax mitgebracht, um euch Ungläubige in die Hölle zu befördern!«
Nachvollziehbar , hatte Lutfi Latif gesagt. Ja, das konnte man wohl sagen. Aber wie konnte Lutfi Latif von dem Vorfall wissen?
»Herr Latif, wieso wissen Sie, weswegen ich verurteilt wurde? Es stand ja schließlich nicht in meiner Bewerbung.«
»Sie haben recht, ich hätte Ihnen das besser gleich zu Beginn gesagt, aber das Bundeskriminalamt hat mir die Akte gezeigt.«
»Das BKA ? Wieso das denn?«
»Sehen Sie, das BKA ist für die Sicherheit der Abgeordneten zuständig. Und bei mir geht das BKA von einer erhöhten Gefährdung aus.«
»Durch mich?«
»Durch potenziell jeden, nehme ich an.«
»Herr Latif, wie viele Ihrer Bewerber und Bewerberinnen sind Muslime?«
»Nur Sie, soweit ich weiß.«
»Und wie viele Bewerber hat das BKA durchgecheckt?«
»Ebenfalls nur Sie.«
Sumaya lachte auf. Das konnte einfach nicht wahr sein! Hatte Fadi am Ende recht gehabt? War Lutfi Latif noch vor seiner ersten Sitzungswoche zum Verräter geworden?
»Frau al-Shami, es ist nicht so, wie Sie gerade denken«, sagte Lutfi Latif leise und eindringlich.
»Ach ja? Die Fakten sprechen doch wohl eine klare Sprache, oder etwa nicht? Kaum nähert sich Ihnen eine Muslimin, schon springt die Maschine an. Und sie finden das offenbar auch noch normal!« Sumaya stand auf. Sie hatte genug gehört.
»Bitte gehen Sie nicht.«
»Warum sollte ich noch bleiben?«
Lutfi Latif stand plötzlich neben Sumaya. Er überragte sie um einen Kopf. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er sie besänftigend am Arm fassen, tat es aber nicht. »Frau al-Shami«, sagte er stattdessen, »ich hatte 28 Bewerbungen auf diese Stelle. Ich habe 27 zurückgeschickt, nur Ihre habe ich behalten, und nur Sie habe ich eingeladen, weil mich Ihre Unterlagen beeindruckt haben. Und das war, bevor ich die BKA – Akte kannte.«
Sumaya blickte dem Abgeordneten in die Augen. Kann ich ihm glauben? Langsam setzte sie sich wieder. »Es tut mir nicht leid!«, sagte Sumaya.
Lutfi Latif setzte sich ebenfalls. »Ja, aber mir tut es leid. Entschuldigen Sie bitte. Ich hätte Ihnen von Anfang an Bescheid sagen müssen. Das BKA prüft von Amts wegen Ihre Unterlagen, es gibt eine Grundlage dafür, dagegen kann ich nichts tun. Aber ich hätte Sie gleich informieren sollen. Es war ein Fehler.«
»In Ordnung«, sagte Sumaya.
»Wollen wir dann weitermachen?«
»Ja.«
Beide atmeten tief durch. Lutfi Latif überspielte die Merkwürdigkeit des Moments geschickt, indem er Sumaya als Nächstes fragte, ob ihr Arabisch eigentlich dazu ausreichen würde, zum Beispiel morgens bei Bedarf eine Presseschau der wichtigsten arabischen Zeitungen für ihn zu machen? Ja, das würde es, versicherte sie. Er wollte außerdem wissen, womit sie sich in ihrem Studium vorrangig
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