Radio Heimat
Die fleischige Pranke, die eben noch tief in Adolfs Nackenfell Parasiten gesucht und gefunden hatte, senkte sich im nächsten Moment in eines der durchsichtigen Bonbon-Schubfächer und kramte Salmiakpastillen, Brausebonbons oder Weingummis hervor, um sie auf die abgewetzte Wechselgeldablage im offenen Budenfenster zu knallen.
Nach Herrn Lemkes Tod wurde die Bude auf Weisung des Gesundheitsamtes abgerissen, worauf noch drei Meter Mutterboden ausgetauscht werden mussten, da man eine Kontaminierung des Grundwassers fürchtete.
Als ich mit zwanzig von zu Hause auszog, fand ich eine Wohnung mit Bude gleich im Nebenhaus. Diese war eine von den Luxusmodellen, in die man sogar hineingehen konnte. Das Zeitschriftenangebot lag nur knapp unter dem, was an internationalen Flughäfen üblich ist, die Liste der angebotenen Biersorten ging über zwei handgeschriebene Din-A4-Seiten und neben dem üblichen Kram wurde ein Haufen sogenannter »Vergess-Artikel« angeboten, also H- und Dosenmilch, in Folie hineingefolterte Wurst, Gewürzgurken im Glas und - gleichsam, um den Geschlechterproporz zu wahren - Tampons und Binden.
Der Budenmann war ein breitschultriger Türke mit einem unterarmdicken Schnauzbart unter der Nase und gleich zwei echten, weit sichtbaren Goldzähnen im Oberkiefer sowie einer grobgliedrigen Goldkette, die jedoch nur undeutlich durch die dicht bis ans Kinn wuchernde Brustbehaarung schimmerte. Als er mich nach zwei Wochen als Stammkunde erkannt und akzeptiert hatte, drückte er mir auch schon mal zur WAZ ein Kondom in die Hand und sagte: »Brauchst du mehr? Kannst du haben! Brauchst du Frau dazu? Kein Problem. Du sagen, ich liefern.«
Auch nach meinem nächsten Umzug hatte ich es nicht weit. Diesmal wurde mir richtig was geboten. Drei Häuser weiter erwarteten mich täglich von morgens sieben bis abends um 22 Uhr etwa zwanzig nackte Frauen, um mir Bier, Chips oder Zeitungen zu verkaufen. Na gut, wirklich verkauft hat nur eine, und die war auch nicht nackt, aber in den Budenfenstern um sie herum hingen allerlei gynäkologische Fachmagazine, bei denen die neuralgischen Bereiche mit schlecht sitzenden weißen Zetteln verdeckt waren. Ich gebe zu, einmal habe ich so ein Druckwerk erstanden. Natürlich nur um zu sehen, wie tief andere, die sich so was regelmäßig kaufen, schon gesunken sind. Eine leicht aufgedunsene, von vierzig Brüsten umgebene Blondine schob mir das Magazin, mit dem Titelbild nach unten, über den Tresen und sagte voller Verständnis: »Kommen auch wieder bessere Zeiten!«
Es gibt natürlich auch bedenkliche Entwicklungen auf dem Budensektor. Der Hang, den Namen des Besitzers oder der Besitzerin in der Außenwerbung zu verwenden (»Biggis Büdchen«, »Kalles Kiosk« oder ähnliche Albernheiten), ist ebenso abzulehnen wie die Bezeichnung »Verkaufsshop« oder, noch schlimmer: »Happy Shop«.
Die gute Bude erkennt man an einer sachlichen Werbung für eine lokale Biersorte, einem Langnese-Fähnchen und einem mit Edding geschriebenen Schild »Bitte hier klingeln«, gerne auch mit einem Pfeil, der ins Nichts statt auf eine Klingel weist.
Wir fassen zusammen: Hamburg hat den rauen Charme der Alster, durch Berlin weht dann und wann der Mantel der Geschichte und München hat große Biergärten und schicke Klamotten. Das Ruhrgebiet jedoch hat etwas, das dich am Leben erhält, wenn der Supermarkt geschlossen ist: den Zauber der Bude.
Mach die Augen zu und iss!
Heute macht man sich über das Essen sehr viele Gedanken. Früher wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Und warum? Mein Oppa sagte immer: »Futtern hält dich am Kacken!«
Das soll mir schon sehr früh klar gewesen sein. Der Legende nach konnte die stark übergewichtige Schwester Annemarie meine Mutter schon wenige Tage nach meiner Geburt im damaligen Haus C des Augusta-Krankenhauses in Bochum beruhigen: »Dat wird mal n guten Esser!« Wobei es hier ja nur ums Trinken ging. Und da hatte man mich einmal davor und einmal danach gewogen und festgestellt, dass ich dreimal mehr zu mir genommen hatte als der seit siebzig Jahren gemessene Durchschnitt auf dieser Gebärstation.
Aber das war ja noch kein richtiges Essen. Auch die Möhrenpampe, die meine Mutter nach eigener Aussage irgendwann in mich hineinzwängte (jedenfalls das, was ich nicht in der ganzen Küche verteilte) zählt irgendwie nicht. Richtig essen lernt man bei uns inne Gegend bei Omma und Oppa. Ob man dazu Messer und Gabel benutzt, ist zweitrangig.
Auch ist es durchaus nicht
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