Radio Miracoli und andere italienische Wunder
versuche, mich geistig in Richtung des Pfeils und meiner weiteren Odyssee einzustimmen, kommt eine Krankenschwester in mein Blickfeld. Sie ist um die fünfzig, kompakt und rund wie ein Fass, ohne jede Anmutung von Hals oder Taille. Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, schlägt sie die Augen nieder und beschleunigt ihren Schritt, wohl in der Hoffnung, mich abzuschrecken.
»Entschuldigung, wo finde ich die Männerstation?«, frage ich, während sie an mir vorbeimarschiert.
»Wenn es nicht die Tür ist, dann ist es die andere«, erwidert sie, ohne langsamer zu werden.
Zum Glück für sie ist mir Streit zuwider. In mir steckt eine gehörige Portion Feigheit, aber ich weiß diese geschickt unter einem Ausdruck natürlicher Überlegenheit zu verbergen, die mich daran hindert, Zeit damit zu verlieren, mich mit ähnlich gestrickten Individuen auseinanderzusetzen. Den Anweisungen des menschlichen Quaders folgend, steuere ich die »andere« Tür an, und als ich das Ende des kurzen Korridors erreiche, zweigt davon fächerartig eine Vielzahl von Eingängen ab. Und so lande ich zunächst in der Verwaltung, daraufhin in der offenkundig unbewachten Medikamentenkammer, ehe ich über einen Umweg über die Radiologie schließlich die Männerstation erreiche.
Als ich dort ankomme, schlägt mir ein kalter Windhauch entgegen. Ein paar Fenster stehen sperrangelweit offen. Zwei Putzfrauen wischen den Fußboden, ohne Rücksicht auf die über achtzigjährigen Patienten zu nehmen, die vernachlässigt und vor allem ohne akkurat am Fußende eingeschlagene Decken in den Betten liegen. Bei einem davon schauen sogar die nackten Beine heraus, und einen Moment lang bin ich versucht einzugreifen, alle ordentlich zuzudecken und eine Szene zu machen.
Während ich darauf warte, mit dem zuständigen Arzt sprechen zu können, überlege ich, warum ich derart unfähig bin, mich öffentlich zu echauffieren. Vermutlich liegt es daran, dass ich es hasse, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und mit einer anständigen Szene zieht man unvermeidlich alle Blicke auf sich.
Der Stationsarzt wäre als Obsthändler glaubwürdiger. Er strahlt eine professionelle Freundlichkeit aus, die ein wenig zu voreilig daherkommt, um überzeugend zu wirken. Als ich ihn nach meinem Vater frage, blättert er in seinen Unterlagen, den Zeigefinger mit Speichel befeuchtend. Mein Autoverkäufer-Outfit lässt mich reif, verantwortungsbewusst und kultiviert wirken. Ich bin weder das eine noch das andere und muss mir deshalb gezwungenermaßen fünf Minuten lang eine absolut unverständliche Diagnose in Fachchinesisch anhören. Ergeben und mit zusammengepressten Lippen nicke ich.
»Wir tun, was in unserer Macht steht, aber …«, sagt der Arzt und schenkt mir einen väterlichen Blick.
Während mir angesichts der langen Liste von Fremdwörtern schwant, dass ich den heutigen Abend googelnderweise verbringen werde, schüttle ich dem Arzt die Hand und lenke meine Schritte in Richtung Bett Nummer einundzwanzig am Ende des Korridors.
Seit über einem Jahr haben wir uns nicht mehr gesehen. Wer weiß, ob ich ihn überhaupt erkennen werde, und vor allem, wer weiß, ob er mich noch kennen wird. Ich bin nicht sonderlich nervös, da ich mich eine Woche auf diesen Besuch vorbereitet habe und nun auf alles gefasst bin: auf einen Vater, der abgemagert im Koma liegt oder aggressiv vor sich hin deliriert.
Entschlossen betrete ich das Zimmer und erkenne ihn sofort. Er ist dünner geworden, scheint jedoch klar im Kopf und guter Dinge zu sein. Als er mich sieht, hebt er eine Hand und lächelt mir zu. Es geht ihm besser, als ich erwartet habe.
»Ich habe schon gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr«, sagt er, »ich wollte schon wieder gehen …«
Na ja, so klar im Kopf scheint er auch wieder nicht zu sein.
»Und wohin wolltest du?«, frage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
Ich küsse ihn auf beide Wangen. Seine Haut ist kalt. Die beiden putzenden Schreckschrauben sind offenbar auch hier vorbeigekommen. Ich setze mich neben das Bett meines Vaters und ergreife seine Hand.
»Sollen wir bestellen?«, fragt er.
Ich bin ein wenig verwirrt und frage ihn, ob er vielleicht einen Schluck Wasser will. Er schaut sich mit leeren Augen um, hin und wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, dass er fantasiert.
»Man isst nicht schlecht hier«, erklärt er mir.
Er ist überzeugt, in einem Restaurant zu sein, was mir reichlich absurd erscheint
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