Radio Miracoli und andere italienische Wunder
mich jetzt aber permanent herausfordernd anstarrt. Nach einem Leben hinter dem Ladentisch ohne nennenswerte Karrieresprünge oder Ambitionen, Neues auszuprobieren – da dachte ich mir natürlich … wunderbar, der Mann ist wie geschaffen, Wurst und Käse zu verkaufen. Für diese Tätigkeit braucht man jemanden, der Sachverstand und Seriosität ausstrahlt. Die Kunden sind nämlich eine seltsame Spezies. Dosenware wird gekauft, ohne viele Fragen zu stellen, aber frische Ware, die man höchstpersönlich in Augenschein nehmen kann – nein, da müssen tausend Erklärungen her. Ist das Fleisch frisch? Ist es gut, ist es zart? Da braucht man einen wie Marino, habe ich mir gedacht, der seit fünfundvierzig Jahren nichts anderes tut, als zu wiederholen: frisch, frischer, am frischesten.
Zeigt man sich seinen Angestellten gegenüber jedoch von der menschlichen Seite, halten sie einen für schwach. Sie tuscheln hinter deinem Rücken, machen sich lustig über dich, weil dir die Haare ausgehen oder, was noch schlimmer ist, fahren dir in Gegenwart von Kunden über den Mund. Diese Idioten. Sie sind alle so von sich überzeugt und nehmen sich so wichtig.
Bei einer Mutter wie der meinen ist es nicht leicht, pünktlich zu sein. Ich weiß nicht, ob ich sie damit richtig beschreibe, aber sie zieht Katastrophen an wie das Licht die Motten. In ihrer Gegenwart muss man stets auf der Hut sein, denn jeden Moment kann etwas umfallen, explodieren, sich entzünden – mit einem Wort: Überall lauern Gefahren. Hilflos ihren Phobien ausgeliefert, hat meine Mutter sich ihr Leben lang im Haus verkrochen. Sie bestieg kein Flugzeug, weil sie vom Himmel fallen, keinen Zug, weil dieser entgleisen könnte. Schiffe gehen unter, Busse überschlagen sich. Und dann die Autos. Benziner gehen in Flammen auf, und die mit Erdgas angetriebenen Modelle, die explodieren gar. Meine Mutter war nicht Herrin im Haus, sondern dessen Gefangene, hilflos ihren Ängsten ausgeliefert. Und diese Ängste habe ich mit der Muttermilch eingesogen: Ich habe Angst vor Schnellkochtöpfen, vor Rissen in den Wänden, vor Gewittern und vor elektrischen Haushaltsgeräten.
Für einen Menschen wie mich, der in ständiger Alarmbereitschaft lebt, stellt bereits eine Fahrt von zehn Kilometern eine große Herausforderung dar. Auf dem Gehweg achte ich darauf, nicht unter Balkonen zu laufen, es könnte ein Blumentopf herunterfallen oder gar ein Hund. Ich achte darauf, nicht auf Kanaldeckel zu treten, sie könnten nachgeben oder elektrische Schläge austeilen. Im Auto meide ich Alleen, da mich ein Ast treffen könnte. Lege ich den Rückwärtsgang ein, bin ich doppelt vorsichtig, denn schließlich könnte ein seinen Eltern entlaufenes Kind unter die Räder kommen. In der Nähe von Grünanlagen fahre ich besonders langsam, da immer mit einem plötzlich auf die Fahrbahn rollenden Ball, einem Hund oder mit beidem zu rechnen ist. Leider bin ich mir des Ernstes meiner Situation erst bewusst geworden, als es zu spät und die Krankheit meiner Mutter zu der meinen geworden war.
Antonia steht bereits unten auf der Straße und wartet auf mich. Aber sie ist nicht sauer. Sie hat es sich abgewöhnt, sauer auf mich zu sein. Seit wir getrennt sind, sieht sie großzügig über meine kleinen Schwächen hinweg und hat sogar gelernt, sie zu lieben, da ich nur noch ein Leben ruiniere, nämlich mein eigenes.
»Entschuldige die Verspätung«, sage ich.
»Die übliche Viertelstunde. Kein Grund zur Aufregung.«
Es ist schön, sie zu umarmen. Ich darf wieder. Nach einigen Monaten der Quarantäne, in der jede Zurschaustellung von Zuneigung verpönt war, dürfen wir uns jetzt wieder berühren und liebevoll zulächeln, ohne Angst haben zu müssen, dies könnte missverstanden werden.
»Wie geht es dir? Du wirkst besorgt«, sagt sie.
Eigentlich sollte ihre Anteilnahme kein Grund zur Freude für mich sein, denn dieser Satz beinhaltet gewissermaßen die Erklärung für unser Scheitern: Ich bin Claudio, der Schutzlose, den man umsorgen und bemuttern muss. Und deswegen hat Antonia sich für Gaetano entschieden, der ein ganzer Kerl ist und es im Kreuz hat, sie zu umsorgen. Ich freue mich trotzdem, weil ich ohne das Gefühl, geliebt zu werden, nicht leben kann, und weil ich es niemals ertragen könnte, dass sie mir gram ist. Was ist sie doch für eine außergewöhnliche Frau, da sie in ihrem Herzen noch immer ein Plätzchen für mich reserviert hat. Ich muss mich aber auch loben. Ich habe ihr keine Szenen gemacht,
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