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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Bartolomei
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abzugeben. Mit einem Wort, ein normaler Mann von dreißig Jahren hat kaum Chancen, bis dahin von einer Gleichaltrigen überhaupt wahrgenommen zu werden. Jahrelang muss man sich von den Frauen anhören, wie reif sie sind und welchen intellektuellen Vorsprung sie haben, aber kaum sind sie vierzig Jahre alt und haben sich dank ihrer größeren Reife endlich das Leben ruiniert, halten sie alle Männer für fiese Schweine, statt sich selbst die Schuld an ihrem Unglück zu geben. Die spinnen, die Frauen!
    Folglich liegt es nicht an mir, wenn ich mich zum x-ten Mal mit einer Frau in den Zwanzigern zusammengetan habe, die sich offenbar reif genug für eine Beziehung mit einem Vierzigjährigen fühlt. Aber diese Frau erstickt mich mit ihren albernen Aufmerksamkeiten. Ständig schenkt sie mir irgendwelche Dinge und hängt an mir wie eine Klette. Das Problem mit Frauen dieser Altersgruppe ist, dass sie allzu leicht ausrasten, falls wirklich mal etwas Ernsthaftes passiert und man Unterstützung von ihnen bräuchte.
    »Was ist jetzt mit heute Abend?«, fragt sie.
    »Heute Abend muss ich zu meinem Vater.«
    »Was, schon wieder?«
    »Was heißt hier ›schon wieder‹?«
    »Nichts, nur dass du erst gestern und vorgestern bei ihm warst und wir uns heute Abend eigentlich mit Susanna und Marco treffen wollten …«
    »Tut mir leid, können wir nicht morgen was zusammen machen?«
    »Morgen habe ich Sport.«
    »Übermorgen?«
    »Übermorgen habe ich Theater.«
    »Kannst du nicht mal eine Lektion versäumen?«
    »Na, das hört man gern! Auf seine Interessen will der Herr nicht verzichten, aber ich …«
    »Meine Interessen? Der Tumor meines Vaters ist nicht mein ›Interesse‹, er ist eine Tragödie! Ein Albtraum!«
    Nach dem Ausraster merke ich, dass sie sich zusammenreißt.
    »Schon gut, beruhige dich wieder! Ich verstehe dich ja und finde es gut, dass du deinen Vater besuchst … Weißt du noch, letzte Woche? Habe ich dir nicht selbst gesagt, dass du zu ihm gehen sollst?«
    Sie will mir das gesagt haben? Keine Ahnung, kann mich nicht erinnern. Meiner Ansicht nach habe ich zu ihr gesagt: »Ich gehe jetzt zu meinem Vater«, worau f hin sie, die gerade mit ihren Freundinnen beschäftigt war, geantwortet hat: »Äh, ja, geh nur.«
    Sie plappert weiter, aber das kann sie sich sparen. Die Frau ist achtundzwanzig Jahre alt und hat Eltern, die knappe fünfzig sind, Bergwanderungen unternehmen und bei Stadtmarathonläufen mitmachen. Was weiß sie schon von solchen Dingen. Der Gedanke an Tod und Krankheiten ist Lichtjahre von ihr entfernt. So wie ich jetzt.
    Nach dreimaliger Umrundung des Krankenhauses finde ich endlich einen Parkplatz. Langsam überquere ich das verwahrloste Gelände. In den letzten Tagen sind die Besuche bei meinem Vater immer bedrückender geworden. Jedes Mal, wenn ich die Schwelle zu seinem Zimmer überschreite, hoffe ich, ihn lächelnd anzutreffen, aber es geht ihm immer schlechter. Er quält sich, fantasiert oft. Es bringt mich fast um, ihn leiden sehen zu müssen, ohne auch nur das Geringste tun zu können, um ihm Linderung zu verschaffen. Ich halte strammen Schrittes auf den Eingang des Krankenhauses zu, während sich ein Teil von mir vor Angst ins Hemd macht, sich von mir abspaltet und in den nahe gelegenen Park flüchtet. Ich steige die dunklen Treppen hinauf und setze mich gleichzeitig auf eine Parkbank in der Sonne. Ohne mich von den tausend widersprüchlichen Schildern im Krankenhaus in die Irre führen zu lassen, schlage ich den richtigen Weg ein, während ich draußen einen kleinen streunenden Hund streichle, der das Gras beschnuppert und mir ein Lächeln entlockt. Dieses Lächeln trage ich zu meinem Vater, als ich mich mit der unerschütterlichen Heiterkeit eines buddhistischen Mönchs seinem Bett nähere. Der alte Mann wälzt sich herum; er wirkt desorientiert. Ich lege ihm die Hand auf die Stirn und schaue ihm in die Augen.
    »Wie geht es dir?«, frage ich.
    Seine Augen suchen mein Gesicht. Mein Gehirn legt seinen leeren Blick unter den Bildern ab, die ich niemals vergessen werde.
    »Gestern ging es mir gut, aber heute … was machen die hier mit mir?«, fragt er mich.
    Ich decke ihn zu, rede beruhigend auf ihn ein und verlasse das Zimmer auf der Suche nach einem Arzt. Ich stoße auf den Obstverkäufer, der mir etwas von einer kritischen Phase, überhöhten Werten, häuslicher Hilfe und Palliativpflege erzählt. In diesem Moment macht nichts wirklich Sinn. Ich stehe nur deshalb vor diesem Mann, um dem Blick

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