Radio Nights
die Scheibe gehört? Hören müssen! Zuletzt vor ein paar Tagen, als sie ihren zwanzigsten Hochzeitstag feierten.
Ganz |252| Marbrunn war auf den Beinen, obwohl es den Sender seit vier Jahren nicht mehr gibt. Aber mein Vater, Hagelmacher, Lindsey
und die anderen hatten dafür gesorgt, daß die ganze Republik den Namen unserer kleinen Heimatstadt kannte. Und im Ort sind
sie immer noch Helden. Prominente. Menschen, die etwas bewirkt haben. Es fällt mir nach wie vor schwer, das einzuschätzen,
wenn ein Passant, den ich noch nie gesehen habe, meinen Vater respektvoll grüßt – oder sogar einfach umarmt. Als
MBR
dichtmachte, war ich sechzehn. Mir hat das nie viel bedeutet. Vor allem nicht so, wie den beiden Herrschaften auf der Rückbank.
Insbesondere dem einen.
»Ich freue mich sehr«, sagt Donald und strahlt mich an. »Browne ist seit Jahren nicht mehr aufgetreten. Ich habe ihn noch
nie live gesehen.« Er legt seinen linken Arm um meine Mutter und zieht sie noch näher an sich heran. »Ich kann es kaum erwarten,
The
Load-Out
zu hören, am Klavier gespielt und ohne technischen Firlefanz wie Full-Sound-Generatoren.«
»Hoffentlich überlebt er den Auftritt«, frotzele ich.
»Er sieht sehr viel jünger aus, als er ist«, sagt Liddy, als hätte sie meine Gedanken von vorhin erraten. »Wenn ich mit neunundsechzig
noch so gut dabei bin, kann ich froh sein.»
»Das bist du mit Sicherheit«, sagt Donald. »Du wirst von Tag zu Tag schöner, aber nicht älter.« Sie küssen sich. Ich schaue
nach vorn.
»Fahrziel erreicht«, verkündet der Bordcomputer. »Warte zeit bis zur Verfügbarkeit eines Platzes in der Aussteigezone vierzig Sekunden. Automatisches Check-In abgeschlossen. Der Flug
geht von Gate C3. Gute Reise, Lydia und Donald!«
»Danke«, sagt mein Vater. Mutter kichert. Kurz darauf hält der Wagen an, die Türen öffnen sich, wir steigen aus, das Zischen
der Brennstoffzelle verstummt. Es ist ein wirklich herrlicher Julitag. Das Auto hat während der letzten Minuten die Temperatur
angeglichen, sonst würden uns die weit mehr als dreißig Grad draußen jetzt erschlagen.
|253| »Soll ich noch mit reinkommen?«
Donald schüttelt lächelnd den Kopf und hebt den Koffer aus dem Wagen. Meine Eltern umarmen mich nacheinander, dann hakt sich
Lydia bei meinem Vater unter, und sie gehen durch die Drehtür ins Abfertigungsgebäude. Der Koffer rollt ihnen hinterher. Ich
schaue den beiden nach, solange ich sie sehen kann. Sie sind immer noch ein schönes Paar. Ich werde sie vermissen, obwohl
die Reise nur eine Woche dauert. Los Angeles. Jackson Browne wird in einem riesigen Stadion spielen, es war trotzdem nicht
leicht, Karten für diesen Auftritt zu bekommen.
Auf dem Rückweg bietet mir das Entertainment-System Hunderte deutschsprachiger Sender an, darunter über zwanzig Stationen
für Kids, aber auch zig Programme für ältere Menschen, Frauen, verheiratete Frauen, Single-Frauen über fünfzig, Einwanderer
aus Serbien, der Türkei oder Italien, Funk für römisch-katholische Christen, Protestanten, Muslime, Buddhisten, Kreationisten,
Konvertiten, Sportradio für Angler, Golfer, Fußballer, Tennisspieler, und so weiter und so fort. Der Zielgruppenfunk hat das
herkömmliche Radio während der vergangenen Jahre fast vollständig abgelöst. Der technische Fortschritt erlaubt es inzwischen,
Sender nahezu vollautomatisch zu betreiben, und fast alle Musikstationen beziehen den geringen Wortanteil aus derselben Handvoll
Quellen. Zwischendrin läuft dann gestreamte Musik, gesendet wird per WLAN; analogen terrestrischen Funk gibt es längst nicht
mehr. Gleichzeitig ist das ganze internationalisiert; Übersetzungssysteme erlauben es, fremdsprachiges Radio ohne zusätzlichen
personellen Aufwand zu produzieren. Ich könnte aus weltweit zehntausend Sendern auswählen, einen Unterschied würde das nicht
machen.
Zwei nationale Programme haben bis zum Schluß versucht, gegen die Entwicklung zu halten, aber es ist ihnen nicht gelungen.
Die Hörer haben einfach kein Interesse mehr daran, die immer gleiche Musik vorgesetzt zu bekommen, |254| die immer gleichen Pappnasen die immer gleichen Gewinnspiele moderieren zu hören. Die wenigen Sender, die versuchten, origineller
zu sein und direkter auf die Wünsche ihrer Hörer einzugehen, hat es verblüffenderweise noch früher erwischt, weil das billig
zu produzierende IP-Radio sich ohnehin genau dieser Zielgruppe annahm. Als die
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