Rätselhafte Umarmung
auch leicht abgeändert, indem sie den Brandy gegen ein heißes Bad eintauschte. Sie hatte sich im oberen Bad eingeschlossen und in der tiefen, alten, klauenfüßigen Wanne gebadet, bis die Spannung, die sich den ganzen Tag über aufgebaut hatte, wieder verschwunden war. Es hatte sie Mühe gekostet, ihren Geist freizubekommen, und diese Anstrengung hatte sich bemerkbar gemacht. Als sie schließlich, in einen alten Frotteebademantel gehüllt, in ihr Zimmer zurückkam, hatte sie sich auf dem alten, knarrenden Bett zusammengerollt, um sich wenigstens ein paar Minuten auszuruhen.
Zwei Stunden später war sie abrupt aus tiefem Schlaf aufgewacht, mit dem deutlichen Gefühl, daß sie beobachtet wurde. Sie hatte sich aufgesetzt, den Bademantel über der Brust zusammengezogen und sich in dem Zimmer umgesehen, das sie an diesem Morgen bezogen hatte. Es lag im Turm am Ende des Südflügels. Die Wände waren gekrümmt; es gab keine dunklen Ecken, in denen man sich verstecken konnte. Das Zimmer war still und leer, aber es war jemand da gewesen. Das sagte ihr nicht nur die Spannung, die sie immer noch spürte. Quer über ihrem Bett lag ein Kleid. Ein Kleid, das sie nie zuvor gesehen hatte.
Unsicher strich Rachel wenig später mit der Hand über seine Vorderseite. Es war ein eigenartiges Gefühl, ein Kleid anzuziehen, von dem sie nicht wusste , woher es gekommen war und wem es gehörte, aber trotzdem hatte sie dem Drang nicht widerstehen können. Wenn Bryan es ernst gemeint hatte mit dem Umziehen fürs Abendessen, dann hatte sie nichts Passendes dabei - jedenfalls nichts, was es mit diesem Kleid aufnehmen konnte. Die meisten ihrer Kleider und Röcke waren bequeme Baumwollsachen im Studenten-oder Westernstil. Während ihres unbeständigen Lebens mit Terence hatte sie weder die Gelegenheit noch das Geld gehabt, sich ein Abendkleid zu kaufen.
Die Vorstellung, sich zum Abendessen fein zu machen, erschien ihr absurd. Es war ein Ritual aus längst vergangenen Zeiten und von Menschen, die sie nur aus dem Fernsehen oder aus Büchern kannte. Offenbar handelte es sich um eine der kleinen exzentrischen Angewohnheiten, die Addie seit Ausbruch ihrer Krankheit entwickelt hatte. Im Lichte dessen, was seit ihrer Ankunft passiert war, hielt Rachel es für das beste, sich diesem eigentümlichen Diktat zu beugen. Wenn sie ihre Mutter damit glücklich machte, wenn Addie sich dadurch ihr gegenüber ein bisschen öffnete, dann war es bestimmt die Mühe wert.
Sie schaute sich in dem frisch polierten Spiegel über der Frisierkommode an. Das Kleid war aus burgunderroter Seide und mit schwarzen Steinperlen verziert. Die dünnen Träger mündeten vorn wie hinten in einen tiefen V-Ausschnitt. Der Faltenrock fiel von der tief sitzenden Taille bis auf ihre Knöchel. Das Kleid schien aus den zwanziger Jahren zu stammen - eine Antiquität. Seit ewigen Zeiten hatte sie nichts so Schönes mehr getragen. Und Bryan Hennessy hatte es ihr gebracht.
Bei dem Gedanken wurde ihr heiß. Er musste hereingeschlüpft sein und es am Fußende des Bettes abgelegt haben, während sie geschlafen hatte. Und wenn sie in diesem Moment die Augen aufgeschlagen und ihn angesehen hätte? Vielleicht wäre ihr Bademantel verrutscht, und sein Blick hätte sich langsam gesenkt ...
Rachel schnappte verlegen nach Luft. Die Frau im Spiegel wirkte unsicher. Das dämmrige Licht im Zimmer ließ ihre Augen tiefviolett leuchten. Ihre Wangen waren gerötet. Und ihr Mund sah irgendwie verletzlich aus. Sie hatte keine Zeit mehr, sich das Haar wieder hochzustecken, deshalb ließ sie es in dichten, goldenen Wogen über ihren Rücken fallen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Bryan die Frisur gefallen würde.
»O Himmel«, stöhnte sie müde. Sie kniff die Augen zusammen und rieb sich die Schläfen. »Was soll ich bloß mit diesem Bryan machen?«
Irgendwo erklang ein Gong.
»Ein Essensgong?« Sie lachte leise. »Na ja, eigentlich sollte mich das nicht überraschen. In diesem Haus ist nichts und niemand normal.«
Sie schlüpfte in ein Paar schwarze, hochhackige Schuhe, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und ging aus dem Zimmer.
Sie sah Bryan, sowie sie die große Haupttreppe erreicht hatte, und das Herz sprang ihr in die Kehle. Ihre Hand tastete nach dem Mahagonigeländer, sie hielt inne und sah nach unten, wo der Geisterjäger mit einem Drink in der Hand stand und sich mit einer Frau unterhielt, die Rachel nie zuvor gesehen hatte.
Bisher hatte sie ihn auf eine unkomplizierte,
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