Räuberbier
dem Bereich der Skalen in einem etwa 45-Grad-Winkel nach unten zum Boden. Auch dort auf dem Pflaster war eine Skala angebracht. Zwei Sandsteinbänke luden in wärmeren und leichenärmeren Zeiten zum Verweilen ein. Hier konnte man, zumindest im Sommer, die Schattenwurfreise des Metallstabs beobachten und die Uhrzeit ablesen.
Der auf der Sonnenuhr eingemeißelte Spruch ›Der Natur zur Ehre‹ stand in krassem Widerspruch zu der abgedeckten Leiche, die unmittelbar davor auf dem Pflaster lag.
Wir begrüßten die Kollegen, die wir vom Sehen her kannten und die aus diversen Kripoinspektionen der Umgebung zusammengetrommelt waren. Meine Befürchtung, auch heute wieder auf Dr. Metzger zu treffen, bewahrheitete sich nicht.
»Nichtnatürliche Todesursache«, berichtete der anwesende Arzt. »Das Opfer ist erstickt. Näheres wird die Obduktion zeigen.«
»Ist ein Unfall auszuschließen?« Jutta hatte diese Frage gestellt.
Wortlos hob der Arzt das Leintuch ab. Der männliche Tote, ich schätzte ihn auf Mitte 30, sah auf den ersten Blick gut gepflegt aus. Er trug Jackett, weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose. Seine Figur konnte man durchaus als sportlich bezeichnen. Der rechte Schuh fehlte. Allerdings gab es eine Merkwürdigkeit. Auf seiner Stirn waren die Worte ›Meine Zeit ist abgelaufen‹ zu lesen.
»Ist das tätowiert oder nur ein Abziehbild, wie es früher in den Kaugummipäckchen lag?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das ist richtig tätowiert und höchstens ein paar Stunden alt. Wohl eher dem professionellen Bereich zuzuordnen.«
Während der Arzt sich mit seiner Tasche beschäftigte, kam ein Spurensicherer und gab mir zu verstehen, dass ich im Weg stand.
»Liegt das Opfer so, wie es aufgefunden wurde?«, fragte ich ihn.
Auch von dem Spurensicherer erhielt ich ein Kopfschütteln. »Ein älteres Ehepaar hat den Toten vor einer Stunde gefunden. Man hat ihn stehend mit dem Rücken an die Sonnenuhr gebunden. Sah schon etwas makaber aus.« Er zeigte auf eine Tüte, die etwas abseits im Gras lag. »Das Seil bekommen Sie in jedem Baumarkt. Details untersuchen wir erst im Labor, dort ist es nicht so kalt.«
»Haben Sie den zweiten Schuh gefunden?«
»Hier in der Umgebung nicht. Vielleicht liegt er im See oder ein Hund hat ihn apportiert, keine Ahnung.«
»Und wie lange hing er insgesamt an der Uhr?«
»Sie stellen aber Fragen. Das kann man ad hoc bei diesen Außentemperaturen schlecht beantworten. Aufgrund der frischen Tätowierung würde ich schätzen, dass er erst kurz vor dem Auffinden angebunden wurde. Vorausgesetzt er wurde nicht hier vor Ort tätowiert.«
»Ist dem Ehepaar etwas aufgefallen? Außer dem Toten meine ich.«
Der von mir Angesprochene, der gerade auf dem Boden herumsuchte, stand auf. »Was sollen wir noch tun? Sind Sie der ermittelnde Beamte oder wir? Es ist schon schwierig genug, meiner Frau zu erklären, warum ich, der normalerweise in Bad Dürkheim arbeitet, an einem Sonntag nach Ludwigshafen muss.«
Was sollte ich diesem frustrierten Beamten nur antworten? Am besten war wohl die Taktik des Ignorierens, mit der ich große Erfahrung hatte.
»Dann werde ich sie selbst befragen. Wo sind sie denn?«
Der Spurensicherer blickte sich verlegen um. »Weiß nicht. Vorhin waren sie noch da.«
»Hat sich niemand um das Paar gekümmert?«
»War ja sonst keiner da. Mein Kollege und ich und dann noch der Arzt. Zwei oder drei Schutzpolizisten sind später dazugekommen und haben den Platz abgesperrt.«
Unglaublich, was sich hier abspielte. Hoffentlich würde von unserer Unterbesetzung nichts in der Bevölkerung durchsickern. Kaum auszudenken, wenn das ältere Paar, das den Toten gefunden hatte, einen Leserbrief in der regionalen Zeitung veröffentlichen würde. Der Arzt kam wieder in mein Blickfeld und überreichte mir zwei Sachen.
»Das sind sein Ausweis und sein Schlüsselbund. Geld hatte er keines dabei.« Er nickte in Richtung Opfer. »Ich gehe jetzt, mehr kann ich nicht für Sie tun. Und für den gilt das Gleiche. Ich habe den Leichenheinis vom Bestattungsunternehmen telefonisch Bescheid gegeben. Die brauchen aber noch mindestens eine Stunde, bis sie kommen können. Die räumen im Moment bei einem Familiendrama in Frankenthal auf.« Der Arzt schnappte sich seine Tasche und ging.
Jutta, die in der Zwischenzeit die nähere Umgebung unter die Lupe genommen hatte, kam nachdenklich auf mich zu.
»Das verstehe ich nicht, Reiner«, begann sie. »Warum hat der Täter nur solch ein hohes Risiko auf
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