Rain Song
sich und versuchte, aus dem Erdloch zu steigen. Aber die nasse Erde gab immer wieder nach, sodass er mehrere Male zurückrutschte.
Bill fasste ihn an der Schulter. »Es tut mir so leid, Greg. Dein Vater muss tatsächlich den Verstand verloren haben.«
Der junge Holzschnitzer starrte auf die erdigen Knochen zu seinen Füßen, als könne Jim allein durch seinen starken Wunsch wieder lebendig werden. »Ich habe beinahe fünf Jahre lang mit ihm zusammen in diesem Haus gelebt und nichts davon gemerkt.«
»Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht wissen, dass er so krank ist. Keiner von uns hat es gewusst.«
Greg rieb sich die Hände am Hosenbein. Die tiefe Erschütterung ließ ihn regungslos verharren, wo er war, bis Hanna an den Rand der Grube trat und ihm heraushalf.
Die Männer von der Spurensicherung waren schnell vor Ort, denn sie hatten gerade erst ihre Arbeit am Cape Flattery beendet. Oren Hunter begleitete sie. Während die Männer begannen, geschützt unter einer Plane Jims Leichnam freizulegen, zeigte der Polizeichef Greg Ahousat das Werkzeug, das er am Kap sichergestellt hatte.
»Es gehört meinem Vater«, sagte Greg. »Wo hast du das her?«
»Er hat wieder versucht, das Geländer zu präparieren.« Hunter seufzte. »Es tut mir leid, Greg.«
Erst jetzt begriff Greg das wortlose Dunkel, das hinter all den Ungeheuerlichkeiten lag. Sein Vater war von einem Dämon der Vergangenheit besessen, der alles Gute in ihm getötet und ihn zu einem unberechenbaren Verfechter überholter Wertvorstellungen gemacht hatte. Matthew Ahousat war ein gefährlicher Mann.
»Du musst ihn finden, Chief«, sagte Greg leise. »Finde ihn, bevor er noch mehr Schaden anrichten kann.«
»Keine Sorge, das werden wir«, versprach Hunter. »Und ich werde mich darum kümmern, dass er einen fairen Prozess bekommt.«
Unmerklich schüttelte Greg den Kopf. Er wusste, dass sein Vater sich nicht freiwillig in die Hände eines Gesetzes geben würde, das er zutiefst verachtete. Es war das Gesetz des weißen Mannes und er würde sich ihm entziehen. Wie, darüber mochte er jetzt nicht nachdenken. Doch eines war so sicher wie Ebbe und Flut: Matthew Ahousat würde kein zweites Mal ins Gefängnis gehen.
»Du hattest übrigens recht«, sagte Hunter zu Bill. »Die Wilde Frau gab es tatsächlich. Wir kannten sie alle. Es war Flora Echahis.«
Bill wandte den Blick ab.
Hunter vermied es, Greg anzusehen. »Sie war die Geliebte deines …«, er räusperte sich, »des alten Ahousat. Sie waren zusammen, als ich sie am Geländer überraschte. Bei ihrem Versuch zu fliehen, stürzte Flora von den Klippen.«
Sein Vater und Flora Echahis. Bill hatte also recht gehabt. War er denn wirklich so blind gewesen gegenüber den Dingen, die um ihn herum passierten? Hilfe suchend sah Greg sich nach Hanna um. Sie war alles, woran er sich noch festhalten konnte, nachdem seine Welt zusammengebrochen war. Müdigkeit und Trauer übermannten ihn.
Bill bemerkte es. Er griff in seine Tasche und reichte Greg einen Schlüssel. »Hier!«, sagte er, »fahrt zu mir nach Hause und legt euch ins Gästezimmer. Ihr habt den Schlaf dringend nötig.«
Greg schüttelte geistesabwesend den Kopf.
»Nun geh schon«, sagte Bill ungeduldig, »für dich gibt es hier nichts mehr zu tun. Über alles Weitere reden wir morgen.«
Der alte Mann rannte ziellos durch den Wald. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und Brombeerranken rissen an seinen Kleidern. Seine Lungen schmerzten und die alten Knochen in seinen Gliedern drohten zu bersten. Schließlich endete seine Flucht am Rand der Steilküste. Matthew Ahousat ließ sich auf den feuchten Boden fallen, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Erde drang ihm in Mund und Nase. Er schmeckte den Boden seiner Vergangenheit, der plötzlich so bitter wurde, dass er hustete und um sich spie.
Ahousats Körper bebte von der körperlichen Anstrengung, aber sein Geist war vollkommen klar. Es war der Augenblick, in dem er begriff, dass es keine Zukunft mehr für ihn gab. Flora war tot und mit ihr waren all seine Hoffnungen auf einen weiteren Sohn gestorben.
Greg würde Hauspfähle schnitzen und den stolzen Namen Ahousat mit Schande bedecken, indem er ihn an hellhäutige Kinder weitergab. Seine Privilegien hatte er verwirkt – genauso wie Jim.
Matthew erinnerte sich sehr genau an jenen Winterabend, als Jim Kachook vor ihm gestanden hatte. In seinem Gesicht die Freude darüber, endlich wieder zu Hause zu sein.
Ahousat hatte seinen Wahlsohn in die Arme
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