Ramses 4 - Die Herrin von Abu Simbel
Lage im Blick behalten könnte? Gewiß wagte sich Muwatallis Bruder auch nicht weiter gen Süden vor. Es stand also zu vermuten, daß er in seine Heimat zurückgekehrt war, aber aus welchem Grund?
«Hoher Herr…»
Eine leise, bebende Stimme schreckte Acha aus seinen Gedanken. Er richtete sich auf und sah im Halbdunkel eine junge Frau in einem kurzen, hemdartigen Gewand, mit gelöstem Haar und nackten Füßen.
«Fürst Benteschina schickt mich her… Er hat mir aufgetragen… Er verlangt…»
«Setze dich zu mir.»
Zögernd gehorchte sie.
Sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein, war blond und ein wenig rundlich, sehr anziehend. Behutsam streichelte Acha ihre Schulter.
«Bist du verheiratet?»
«Ja, Hoher Herr, aber der Fürst hat mir versprochen, daß mein Gemahl nichts davon erfährt.»
«Welchen Beruf übt er aus?»
«Er ist Zöllner.»
«Gehst du auch einer Beschäftigung nach?»
«Ich leite im Amt für Briefschaften die dringenden Sendschreiben an die richtigen Boten weiter.»
Acha ließ die Träger des Kleides über ihre Schultern gleiten, küßte die blonde Frau in den Nacken, dann legte er sie auf das Bett.
«Kommen dir dort Neuigkeiten aus der Hauptstadt von Kanaan zu Ohren?»
«Bisweilen ja… Aber darüber darf ich nicht sprechen.»
«Halten sich hier viele hethitische Krieger auf?»
«Auch darüber darf ich nicht sprechen.»
«Liebst du deinen Gemahl?»
«Ja, Hoher Herr, ja…»
«Ist es dir nicht widerwärtig, ihn zu betrügen?»
Sie wandte den Kopf ab.
«Antworte auf meine Fragen, dann rühre ich dich nicht an.»
Mit Hoffnung im Blick betrachtete sie den Ägypter.
«Gibst du mir dein Wort?»
«Bei allen Göttern Amurrus, ja, ich gebe dir mein Wort.»
«Es sind noch nicht sehr viele Hethiter hier. Nur einige Dutzend Ausbilder unterweisen unsere Soldaten.»
«Ist Hattuschili abgereist?»
«Ja, Hoher Herr.»
«Wohin?»
«Das weiß ich nicht.»
«Wie steht es um Kanaan?»
«Die Lage ist unklar.»
«Wird die Provinz nicht von den Hethitern beherrscht?»
«Es sind Gerüchte in Umlauf, die einander widersprechen.
Manche behaupten, der Pharao habe Gaza, die Hauptstadt Kanaans, wieder in seine Gewalt gebracht und der Statthalter der Provinz sei bei dem Angriff getötet worden.»
Acha spürte, wie neue Hoffnung in ihm aufstieg, als werde er dem Leben wiedergegeben. Ramses hatte nicht nur seine Botschaft entschlüsselt, sondern holte zum Gegenschlag aus und hinderte die Hethiter daran, weiter vorzudringen. Deshalb war Hattuschili abgereist, um König Muwatalli zu warnen.
«Tut mir leid, meine Schöne.»
«Du… du hältst dein Wort nicht!»
«Doch, aber ich muß gewisse Vorkehrungen treffen.»
Acha fesselte sie und steckte ihr einen Knebel in den Mund.
Er brauchte einige Stunden Vorsprung, ehe sie Alarm schlug.
Als er ihren Mantel entdeckte, den sie an der Tür des Gemachs abgestreift hatte, kam ihm der rettende Einfall, wie er aus dem Palast schleichen könnte. Er warf sich das Kleidungsstück über, setzte die Kapuze auf und eilte zur Treppe.
Im Erdgeschoß fand ein Festmahl statt.
Einige Gäste, die zuviel getrunken hatten, waren bereits eingeschlafen, andere gaben sich zügellos ihrer Leidenschaft hin. Acha stieg über zwei nackte Leiber hinweg.
«Wo willst denn du hin?»
Der Ägypter konnte nicht weglaufen. Mehrere Bewaffnete bewachten die Tür des Palastes.
«Bist du mit dem Ägypter schon fertig? Komm her, Kleine…»
Nur wenige Schritte trennten den Gesandten von der Freiheit.
Da zog Benteschina ihm mit schmieriger Hand die Kapuze vom Kopf.
«Du hast Pech, mein lieber Acha.»
VIER
PI-RAMSES, DIE IM DELTA neu erbaute Hauptstadt, trug den Beinamen «die Türkisfarbene», da blaugrün schimmernde Kacheln die Fassaden der Häuser schmückten. Wer in den Straßen von Pi-Ramses lustwandelte, bestaunte die Tempel, den Königspalast, die künstlich angelegten Seen, den Hafen.
Er weidete sich am Anblick der mit Obstbäumen bestandenen Haine, der Kanäle voller Fische oder geriet in helles Entzücken über die vornehmen Wohnsitze adliger Familien und über die von Blumen gesäumten Alleen. Jeder tat sich gütlich an Datteln und Granatäpfeln, an Oliven und Feigen, wußte den fruchtigen Geschmack edler Weine zu schätzen und sang ein bei allen beliebtes Lied: «Welche Wonne ist es, in Pi-Ramses zu wohnen, wo der Kleine so geachtet wird wie der Große, wo Akazie und Sykomore ihren Schatten spenden, wo die Wände in Gold und Türkis erstrahlen, wo der Wind voller
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