Raniels Engelwelt
Sie verging so verdammt schnell. Hundertundzwanzig Sekunden, dann war es vorbei. Dann würden sich für ihn die Tore öffnen, wie es ihm versprochen worden war.
Sein Blick richtete sich nicht mehr nur in die Tiefe. Er schaute mehr nach vorn und über die beiden glänzenden Schienenstränge hinweg. In der Ferne würde das Licht zuerst nur als kleiner Punkt erscheinen und dann sehr schnell heller werden. Er hatte es einige Male erlebt, nur würde in dieser Nacht alles anders sein.
Noch brauchte er nicht auf das Geländer zu klettern. Es war nicht einfach, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Er durfte sich nicht zu früh und auch nicht zu spät fallen lassen. Alles musste genau getimt sein. Dass er es schaffte, davon ging er aus.
Wieder ein Zeitvergleich.
Keine Minute mehr!
Das Wissen darum ließ sein Herz noch schneller schlagen. Der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Hinter der Stirn lag der leichte Druck, den er aber ignorierte.
Wo war das Licht?
Angestrengt schaute Kevin Frost nach vorn. Eigentlich war er mit seinen 35 Jahren viel zu jung zum Sterben, aber er ging davon aus, dass sein Tod kein normaler war, sondern ein Schritt in eine bessere Welt, auf die er sich freute.
Alles um ihn herum war jetzt weggerückt. Es gab einzig allein den Blick nach vorn für ihn. Er wollte das Licht so früh wie möglich sehen.
Er würde bleiben und es durchziehen, das stand für ihn fest. Es gab kein Kneifen mehr.
In der Dunkelheit ist ein Licht aus großer Entfernung zu sehen. Das war auch hier nicht anders. Es gab nichts, was störte oder ihn abgelenkt hätte.
Plötzlich war es da!
Ein heller Punkt schwebte über der schnurgeraden Strecke. Wie ein tanzendes Licht aus einer anderen Sphäre. Eines, das nur wenig schwankte, weil es geführt wurde.
Klein, aber vorhanden und auch größer werdend.
Ab jetzt galt für Kevin Frost die volle Konzentration. Nichts durfte ihn ablenken, damit er den Absprung nicht verpasste. Der Lokführer würde ihn vielleicht gar nicht sehen. Oder wenn, dann war es zu spät.
Noch ein Blick nach vorn.
Das Licht war da, und es war auch größer geworden. Genau darauf setzte er.
Er zählte die Sekunden. Das Licht bekam einen Begleiter. Die rollenden Geräusche des anfahrenden Zugs. Sie berichteten bereits von der Wucht, mit der dieser Koloss unterwegs war.
Der Zug war ein Ungeheuer. Ein Monster, das zu einer metallenen Schlange mutiert war und alles zermalmen würde.
Plötzlich wurde Frost ganz ruhig. Nichts mehr rührte sich in seinem Innern.
Den Scheinwerfer der Lok sah er deutlicher. Sie und die Schlange der Wagen rollten und rauschten heran. Sie würden alles vernichten, was sich ihnen in den Weg stellte.
Noch war es nicht so weit. Erst wenn er aufschlug, erfasste ihn die Maschine, und sein Körper würde für sie nicht mehr sein als nur ein kleiner Stein.
Der letzte Blick.
Ja, das Timing stimmte.
Einen Atemzug später stieg Kevin Frost auf das Geländer...
***
Das Leben eines Menschen besteht nicht nur aus einer Aneinanderreihung von freudigen Ereignissen. Es gibt auch hin und wieder Zeiten, die man abhaken kann.
So erging es auch dem Reporter Bill Conolly. Er hatte schon am Morgen keine Lust gehabt, zu diesem Symposium zu fahren, in dem es darum ging, wie sich die Presse verhalten sollte, wenn irgendwelche Skandale aufgedeckt wurden.
Kluge Menschen hatten dazu einige Reden gehalten. Es gab zahlreiche Zuhörer, aber nur eine geringe Anzahl unter ihnen hatten sich interessiert gezeigt. Den meisten Kollegen erging es wie Bill Conolly. Sie hatten sich gelangweilt.
Einige waren in der Pause schon gefahren. Das hätte Bill auch am liebsten getan, doch er hatte einen alten Kollegen getroffen, den der Job nach Paris getrieben hatte, von wo er aus seine Berichte an die verschiedenen Zeitungen schickte.
Die beiden Männer hatten Erfahrungen ausgetauscht und die Vorträge am Nachmittag einfach vergessen. So war die Zeit vergangen, und Bill hatte mit einem Blick nach der Uhr festgestellt, dass es schon verdammt spät geworden war.
Sein Kollege musste auch fahren. Nur nicht nach London hinein, sondern zum Flughafen. Er wollte noch die letzte Maschine nach Paris bekommen, wo seine junge Frau auf ihn wartete, die dritte mittlerweile.
»Ja, junge Frauen darf man nicht allein lassen«, hatte Bill zum Abschied gesagt und schaute zu, wie der Kollege in den Leihwagen stieg.
»Du sagst es, mein Freund. Sehen wir uns mal wieder?«
»Bestimmt.«
»Du bist in Paris immer
Weitere Kostenlose Bücher