Raphael
Schutz geboten hat“, unterbricht Setjan mich. „Er hat es erworben, um anzugeben. Die Wände hängen voller Gemälde, deren Glasrahmen das Licht reflektieren werden. Falls da eben eine Scheibe zu Bruch gegangen ist und die beiden bis Sonnenaufgang nicht draußen sind, verbrennen sie.“
Und das scheint Kincade genauso bewusst zu sein wie Raphael, weil im nächsten Moment die Tür aufgeht und beide praktisch zu uns in den Flur fallen. Setjan zerrt mich beiseite und auf die Füße. Gerade rechtzeitig, denn weiter miteinander kämpfend, prallen sie dort gegen die Wand, wo wir gesessen haben. Sie bluten aus unzähligen Wunden, doch irgendwie scheint Raphael die Nase vorn zu haben. Kincade schwankt bedenklich, während er sich langsam aufrappelt, nachdem Raphael ihn knurrend an die gegenüberliegende Wand geworfen hat.
„Setjan? Sorge dafür, dass Caine erwachsen wird.“
Ich brauche einen Moment, bis ich die Bedeutung von Raphaels Worten begreife, und das ist genau die Zeit, die er benötigt, um Benedict wieder zurück in die Bibliothek zu zerren und uns die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
„Nein!“ Ich will ihm nach, doch Setjan hält mich an den Armen fest. „Lass los! Die Sonne geht gleich auf!“, schreie ich ihn an, erreiche damit aber nichts. Setjan ist viel stärker als ich. Ich schaffe es nicht, mich aus seinem eisernen Griff zu lösen, geschweige denn, dass ich in die Bibliothek stürmen kann, um Raphael eine reinzuhauen und ihn danach zu uns in den von der Sonne geschützten Flur zu ziehen. „Setjan, verdammt ... lass mich los!“
„Zu spät, Junge“, murmelt er und da spüre ich bereits das leichte Prickeln unter meiner Haut, das uns Vampire vor dem Sonnenaufgang warnt.
„Scheiße“, rutscht mir geschockt heraus, dann hören wir einen Schrei, nach dem ich mich noch heftiger gegen Setjan zu wehren anfange als zuvor. Der Schrei kam von Raphael. „Setjan, lass endlich los, um Himmels willen.“
„Nein.“
Der nächste Schrei dringt durch die dicke Tür zu uns, dem ein Röcheln folgt und plötzlich kehrt Stille ein. Das war nicht Raphael, aber das ist mir völlig egal. „Bist du verrückt? Er stirbt da drin. Das darfst du nicht zulassen.“
„Es ist seine Entscheidung.“
Setjan hält mich unbeirrbar fest und das lässt mich endgültig die Beherrschung verlieren. „Er ist dein Sohn, du Feigling!“
Setjan wirbelt mich brutal herum. Ich knalle so heftig mit dem Rücken an der harten Wand, dass meine Zähne aufeinander schlagen. Setjans Blick ist voller Wut, als er sich vor mir aufbaut. „Und du bist mein Enkel, wenn wir schon auf die Art diskutieren. Er will, dass du lebst, also sorge ich dafür, dass du es tust.“
„Aber er stirbt ...“
Der dritte Schrei lässt mich fassungslos verstummen, denn er ist hoch, schrill und unmenschlich laut, und er hält an. Mein Blick fällt auf die geschlossene Tür. Wer immer von den zwei das eben war, er muss unglaubliche Schmerzen haben.
„Setjan, bitte ...“, flehe ich, doch Setjan schüttelt mit einem gequälten Blick den Kopf, und auf einmal wird der Schrei leiser, verändert sich zu einem Gurgeln, Stöhnen und Wimmern. Wann hört es nur endlich auf? Niemand verdient so einen Tod, nicht einmal Benedict Kincade.
Es dauert nicht lange, bis mir mein stummer Wunsch erfüllt wird. In der Bibliothek kehrt gespenstische Ruhe ein. Und auf einmal habe ich das Gefühl, jemand würde mir bei lebendigem Leib das Herz herausreißen. Das ist also die Verbindung, von der Raphael immer gesprochen hat. Sein endgültiger Tod zerreißt sie gnadenlos, trennt uns unwiderruflich voneinander. Was folgt, ist ein Meer aus Schmerzen.
„Kämpfe nicht dagegen an“, flüstert Setjan neben mir. „Das ist der Preis, den wir zahlen, wenn eine Verbindung getrennt wird.“
Er lässt von mir ab und ich gehe stöhnend in die Knie, weil mein ganzer Körper von Krämpfen geschüttelt wird. Zuckend falle ich auf die Seite und kann dadurch direkt zu Setjan sehen, der neben mir am Boden sitzt und mit dem Rücken an der Wand lehnt. Er zittert genauso heftig wie ich und ich kann mich nicht entscheiden, was ich als schlimmer empfinde, diese Schmerzen, oder dass Setjan lautlos weint.
Epilog
Setjan hielt mich für verrückt. Seiner Meinung nach, könnte ich in der Welt der Sterblichen keine vier Wochen überleben. Das und noch mehr warf er mir an den Kopf, als ich vor drei Monaten meine Sachen gepackt und New York City verlassen habe.
Doch entgegen
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