Raphael
Der schweigende Butler hält vor einer angelehnten Tür und deutet mit dem Kopf auf sie, bevor er sich umdreht und im Gang verschwindet.
Ich sehe ihm kurz nach, bevor ich das Handy aus der Hosentasche ziehe. Meine Nachricht ist kurz und bündig, aber ich bin sicher, dass Raphael sie verstehen wird.
'Auge um Auge.'
Nachdem die Sendebestätigung da ist, packe ich mein Handy weg, schiebe die Tür auf und trete in den Raum. Es ist Kincades Bibliothek. Nicht schlecht , ist mein erster Gedanke, während ich mich umsehe. Sie ist zweistöckig und die übervollen Bücherregale reichen bis zur Decke. So stelle ich mir eine perfekte private Bibliothek vor. Ich wette er hat sogar Antiquitäten hier, die in den Regalen Staub ansetzen. Wo steckt Kincade überhaupt? Moment, wie meinte er bei unserem ersten Treffen? Nenn' mich Benedict. Das kann er haben. Ich bin sowieso nicht aus Höflichkeit hier.
„Benedict?“, rufe ich und schließe die Tür, um weiter in die Bibliothek zu gehen. Mein Handy vibriert, doch ich ignoriere es. Je nachdem wie schnell Raphael ist, bleiben mir etwa fünfzehn Minuten. Das müsste reichen.
„Nanu?“, erschallt seine erstaunte Stimme irgendwo über mir. „Womit habe ich denn das verdient?“
„Was?“, will ich wissen.
„Dass du meinen Namen benutzt, junger Caine“, sagt er und klingt belustigt.
„Du hast es mir bei unserem allerersten Treffen selbst angeboten“, gehe ich auf seinen amüsierten Tonfall ein.
Daraufhin lacht er leise, was eindeutig von links über mir kommt. „Das habe ich, in der Tat. Was führt dich zu mir? Noch dazu allein? Ich kann Raphael schon wettern hören.“
„Er ist beschäftigt. Irgendwelche wichtigen Dinge, für die ich zu jung bin“, bleibe ich bei der Wahrheit. Was genau Raphael macht, muss Kincade ja nicht wissen.
„Ich schätze mal, du hast die Gelegenheit genutzt, um dich davonzuschleichen. Kluger Junge.“
Ich muss schmunzeln. Kincade ist gut informiert. Viel zu gut, als dass es Zufall sein kann. Es hätte mich auch gewundert. „Hast du deinen toten Spion schon ersetzt?“
„Wer sagt denn, dass es mein Einziger war?“, stellt er eine Gegenfrage und taucht endlich über mir auf, um sich lässig an das hüfthohe Geländer zu lehnen, welches die Empore abschließt. „Ich habe nicht erwartet, dass du allein kommst.“
Wollen wir doch mal sehen, was er noch so alles nicht erwartet hat. „Hätte ich eine Armee mitbringen sollen?“
„Um dein Überleben zu sichern, wäre es angebracht gewesen“, antwortet Kincade und sieht mich gelassen an. „Was hast du vor? Einen direkten Angriff auf mich, oder wollen wir vorher noch über das Für und Wider meiner Tat debattieren?“
Auf diese plumpe Weise herausfinden zu wollen, ob die Kavallerie bereits auf dem Weg hierher ist, ist sogar für jemanden wie Kincade unter aller Würde. Mein Blick wandert abschätzig über ihn. Hält er mich wirklich für so dumm? „Seit wann gibt es für eine Tat aus angekratztem Stolz ein Für und Wider zu besprechen?“
Kincade nickt belustigt und gleichzeitig anerkennend. „Du bist kratzbürstig. Sogar sehr. Das gefällt mir.“ Dann wird er ernst. „Und verletzend bist du außerdem.“
Nur mit Mühe und Not kann ich mir ein verächtliches Schnauben verkneifen. Kincade versucht tatsächlich mir Schuldgefühle einzureden, ich kann es kaum fassen. Wer hat denn Vargas losgeschickt? Wer hat sich an Kindern vergriffen, mit Hilfe von irgendwelchen Drogen? Dieser arrogante Mistkerl ist einfach widerlich. Ich verabscheue Kincade mit jeder Sekunde mehr, die ich hier stehe und ihn anschaue.
„Was hast du erwartet?“, will ich aufgebracht wissen. „Dass ich mich für den Tod meines Vaters bedanke, der sterben musste, nur weil du dich mit Setjan überworfen hast?“
Kincade zuckt lässig mit den Schultern. „Meine Wahl war logisch. An Raphael konnte ich nicht herankommen, er ist zu alt, also führte mein Weg natürlich zu dir. Setjan hat Sean gerichtet, dafür sollte Vargas dich töten. Auge um Auge.“
„Blödsinn.“ Ich balle vor Wut die Hände zu Fäusten. „Logisch wäre, wenn du Setjan herausgefordert hättest, aber das konntest du nicht, weil es sein Recht war, Sean von dir wegzuholen und dich anzuschwärzen. In Zukunft solltest du deinen Schwanz besser in der Hose lassen, anstatt ihn zum Denken zu benutzen. Das dürfte dir eine Menge Ärger ersparen.“
„Sei vorsichtig, Caine“, droht Kincade daraufhin leise. „Du magst nicht gutheißen, was Sean und mich
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