Der Waechter
Prolog
Jenny friert. Es ist kalt, fast noch dunkel. Sie geht durch die Straßen Richtung Schulgelände. Die Häuser sind eingezäunt wie Festungen. Alles wirkt verlassen. Sie weiß, dass Jahre vergangen sind zwischen dem Moment, in dem sie zu Bett gegangen ist und dem, in dem sie hier den kleinen Messeplatz entlang läuft. Sie hält etwas fest in der Hand. Keinesfalls darf sie es verlieren. Sie muss es schützen. Wenn nötig mit ihrem Leben. Auf jeden Fall mit ihrem Leben! Sie schaut hinunter. Die Hand eines Kindes liegt in ihrer. Warm und zart. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmt Jenny. Das Mädchen sieht zu ihr hinauf und strahlt sie an. Es ist ihr, als würde sie in ihr eigenes Spiegelbild schauen. Eins aus längst vergangener Zeit. Die großen tiefbraunen Augen, die geschwungenen Augenbrauen, der dicke braune Haarzopf, der kleine Schmollmund. Sie sieht ihr so ähnlich! Natürlich tut sie das! Schließlich ist sie ihr Kind. Ihr Mädchen, Marie.
Jenny schaut sich aufmerksam um. Sie sind in Gefahr. Sie darf keinen Fehler machen. Es strengt sie an, ihren Schutz aufrechtzuerhalten. Wie eine unsichtbare Hülle hat sie die Anspannung um sie beide gelegt. Nichts und niemand darf leicht an sie herankommen. Vor ihr auf der rechten Seite wird gleich das Schulgelände mit all seinen Gebäuden auftauchen. Doch da ist nichts dergleichen. Ein großer Platz mit einer runden, rot markierten Betonfläche in der Mitte liegt stattdessen schräg vor ihr. Eine Art Landeplatz für Hubschrauber wie auf den Dächern großer Krankenhäuser. Jenny geht daran vorbei, weiter geradeaus. Da hört sie hinter sich ein Fahrzeug. Sie bleibt stehen, dreht sich um, zieht ihr Kind schützend hinter sich. Die Anspannung, die sie beide einhüllt, verdickt sich wie eine durchsichtige Mauer, wächst unaufhaltsam nach vorn, als würde Jenny mit ihren Gedanken unsichtbare Steine aufeinander zementieren. Jetzt kann sie die Anspannung sehen: transparent, durchzogen von wabernden Regenbogenfarben. Jenny weiß, dass heute etwas passieren wird; etwas mit einem silbernen Wagen. Dieser hier ist dunkelgrün. Kaum hat sie es zu Ende gedacht, weicht ihre erstarrte Schutzhülle auf zu einer gummiartigen Masse und schnellt in sie zurück. Jenny dreht sich um, hält ihr Kind fest in der Hand und eilt weiter. Sie überqueren die Straße, biegen ins Wohngebiet ein. Vor einem Haus, eingezäunt mit hohen, spitzen Gitterstäben, bleiben sie stehen. Das Tor in der Mitte springt auf. Man erwartet sie bereits. Jenny kniet sich zu ihrer Tochter hinunter, nimmt sie fest in die Arme und küsst sie mehrfach auf Wangen und Mund, als müsse sie sich für lange Zeit von ihr trennen. Zögernd richtet sie sich schließlich auf, sieht zu, wie sich die Kleine von ihrer Hand löst, sie aufmunternd anlächelt und das Tor durchschreitet. Jenny schaut ihr nach, wie sie die Steinstufen emporsteigt und erwartungsvoll die Haustür anblickt. Eine Frau erscheint darin, streckt Marie mit strahlendem Lächeln die Hand entgegen. Jennys Angst löst sich. Hier ist Marie in Sicherheit. Nun muss Jenny nur noch sich selbst schützen. Für einen Moment ist sie erleichtert, dann wird sie wieder verschlungen, von der alles umgebenden Angst.
Jenny geht den Weg zurück, den sie gekommen ist. Auf der Höhe des alten Schulgeländes hört sie einen Motor hinter sich aufheulen. Sie dreht sich nicht um, denn sie weiß, dass es sich um einen silbernen Wagen handelt, den silbernen Wagen. Jede Bewegung wäre Zeitverschwendung. Sie presst ihr Inneres zusammen und es scheint, als würde die Zeit beginnen stillzustehen. Alles um sie herum verlangsamt sich. Der Wind wird in weiß- grauen Streifen sichtbar. Nur Jenny behält ihre Geschwindigkeit bei, dreht sich blitzschnell um. Der silberfarbene Wagen ruckelt kaum wahrnehmbar auf sie zu. Jemand ist hinter ihr. Ein blauer Blitz steht neben ihr in der Luft auf Brusthöhe, kerzengerade auf den Wagen gerichtet. Instinktiv lockert Jenny die Kompression um den Blitz. Er bewegt sich nun ebenso schnell fort wie sie. Gerade als er auf den Wagen aufzuschlagen droht, schnellt Jenny wie ein gespanntes Gummiband in sich zurück .
Erschrocken richtete Jenny sich im Bett auf, Schweißperlen auf der Stirn. Ihr Atem ging schnell und fühlte sich heiß an.
Was für ein seltsamer Traum, so real .
Sie hatte das merkwürdige Schutzschild gespürt, die Kraft, die es ausstieß, spürte noch immer die Angst und das Misstrauen, die alles umgaben und das Glück, das sie durchflutete, als
Weitere Kostenlose Bücher