Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
ein Mann, ein Bruder oder ein Sohn auf See blieb. Und unter dem Maulbeerbaum dachte sie einen Augenblick, dass Carl nun etwas mit den Marstallern vereinte, zu denen er in seinen letzten Jahren einen wachsenden Abstand verspürt hatte. Er hatte ihren Tod erlitten, den Tod duch Ertrinken.
Verlust war ein Vakuum, das sich nicht füllen lassen wollte. Von Trauer gebeugt, hieß es, aber wie viel wog dieses Vakuum? Ohne einen Schwerpunkt im Leben konnte Trauer sogar gefährlich leicht sein. Dem Trauernden erschien dann alles unüberwindlich. Weil er kein Ziel mehr hatte. In Anna Egidias Leben allerdings gab es nichts anderes als Ziele. Es ging schlicht um Notwendigkeit, um die Notwendigkeit der Liebe; und bei der Liebe handelte es sich weder um etwas Leichtes oder Schweres, weder um etwas Umfassendes noch um das Gegenteil. Die Liebe existierte jenseits all dieser Maßeinheiten.
Ängste und Sorgen schlugen auf Anna Egidia ein wie Wellen, die selbst die höchste Klippe aushöhlen konnten, wenn sie sich nur lange genug daran brachen. Bei der Liebe ging es indes nicht um eine Klippe. Sondern um eine wortlose Unendlichkeit. Alles – ja, alles – könnte man ihr nehmen, doch ihre Liebe gäbe es noch immer. Sie konnte ein junges Kätzchen finden, ein verwildertes Küken, sogar eine halb verwelkte Topfpfanze auf einem Fensterbrett, und sie empfand das Gefühl, von Liebe durchströmt zu werden.
All dies wusste sie in dieser sonnenhellen Stunde unter dem Maulbeerbaum. Carl konnte im Atelier mit den Kindern toben, er konnte deklamieren, vorlesen, Theater spielen. Aber er konnte auch das genaue Gegenteil sein: verschlossen und auf eine ungesunde Weise grüblerisch. Sie erinnerte sich an die vielen Male, an denen er stundenlang am Strand gestanden und aufs Meer gestarrt hatte, als wären ihm das Wetter und seine Gesundheit egal. Schließlich hatte sie ihn zurück ins Haus bringen müssen, steifgefroren und hustend, wobei er zwischen den Hustenanfällen bat, in Ruhe gelassen zu werden. Hinterher lag er fieberheiß im Bett und klapperte mit den Zähnen. Dann war ihre Ruhe gefragt, diese Ruhe, aufgrund der er ihr später vorwarf, ihr würde das Verständnis für seine Natur fehlen, sie würde seine Begeisterung und Fantasie nicht teilen. Und wenn er in einem Anfall von Reue um Vergebung bat und sich mitten in seiner Entschuldigung erneut aufregte, war ihre Ruhe wieder vonnöten.
Hatte sie nie ein Gefühl der Verletzung empfunden? Doch, bisweilen, und es kam vor, dass sie es nicht verbergen konnte. War sie immer nachsichtig gewesen? Ja, stets. Vielleicht mehr, als es ihr gut getan hatte, aber es lag wohl daran, dass ihr Wesen eigentlich anderer Natur war und nicht von Carls Sicht auf sie abhing. Seiner Liebe konnte sie sich im Grunde nicht sicher sein. Sondern nur, dass sie alles, was sich um sie herum regte, überschwänglich in die Arme schloss.
Sie wusste genau, was Carl über sie gedacht hatte. Er hatte sie beschützen wollen, und dieser Beschützerdrang eines selbst so wehrlosen Manns hatte sie angerührt. Er hatte sie als jemanden gesehen, der immer nur die Nummer zwei im Leben gewesen war – benannt nach einer toten Schwester und Ersatz für eine andere, als er sie nach Henriettas Tod heiratete. Sie selbst sah sich anders. Seit sie ihn als kleines Mädchen in seiner Kammer aufgesucht hatte, als er hungerte und sich stolz von Henrietta lossagte, wusste sie, dass sie ihn liebte. Sie wollte ihn in Henriettas Namen besuchen, obwohl niemand sie darum gebeten hatte. Als sie ihn sah, wusste sie mit einer für ein Kind ungewöhnlichen Kraft, dass er, dieses mürrische, abweisende Wesen, das sie in jugendlicher Überheblichkeit ignorierte, ihr Schicksal werden würde. Sie dachte nicht: Eines Tages wird er mich lieben. Sie dachte nur: Ich liebe ihn.
Ihre Liebe hatte etwas von kindlicher Hingabe, aber es gab noch etwas anderes, Uneigennütziges, und das ließ sie stark werden. Sie war keine Nummer zwei. Diese Idee entsprang Carls selbstsüchtigem, mit Schuldgefühlen beladenem Kopf.
Sie bat nicht um Liebe. Sie gab sie.
Sie war die Stärkere. Damals wusste sie es nicht. Aber sie ahnte es, und seither sollte das Leben es ihr zeigen.
Carl war vor einem halben Jahr nach Grönland aufgebrochen. Jedes Mal stellte sich der Tod auf See so ein. Es gab eine Inkubationszeit, ein langes Ausbleiben, das den Übergang weniger jäh erscheinen ließ. Nun wurde Carls Abwesenheit endgültig. Doch zuerst kamen die Kinder. So würde es den Rest
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