Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
in sich. Es gab nichts Dunkles und Brütendes, keine endlosen Zweifel und Selbstprüfungen, die Anna Egidia in ihrer Jugend so faszinierten und bei denen sie seither all ihre Kraft hatte mobilisieren müssen, um sie zu ertragen.
Dann kamen die ersten Märztage. Carl, den der Golfstrom nach Norden geführt hatte, befand sich auf dem Rückweg. Anna Egidia war nicht in die Hauptstadt gefahren, sondern wartete ungeduldig auf eine Nachricht.
Die Auktion wurde ein ungeheurer Erfolg. Das Geld, das die Gemälde einbrachten, reichte, um ihr und ihren Kindern die Zukunft zu sichern. Das Haus konnte in ihren Händen bleiben, und später gestand sie sich ein, dass sie den Verlust des Hauses wohl schwerer verkraftet hätte als den Verlust ihres Ehemannes. Sein Tod wäre zu endgültig gewesen, hätte sie auch das Haus aufgeben müssen. Es war die Quelle ihrer Ruhe. Carl lebte hier weiter, und sie selbst schien sich von den soliden Mauern, den schweren Dielenböden und den hohen Fenstern, durch die das Licht einfiel, zu ernähren. Carl hatte das Haus nach eigenen Zeichnungen bauen lassen, und sie empfand ihm gegenüber große Dankbarkeit.
In ihrer Erinnerung wurde er nach und nach wie seine Gemälde, mehr Licht als Schatten. Sie spürte die Macht der Hinterbliebenen, ein Leben umzudeuten und zu verändern. Es richtete sie immer wieder auf und machte sie stark, wenn sie sich bückte, um überall in Marstal in die niedrigen Stuben des Todes einzutreten.
Und doch gab es etwas, das an ihr nagte. Es waren die anhaltenden Gerüchte, dass es sich bei Carls Tod nicht um einen tragischen Unglücksfall gehandelt hatte, sondern um Selbstmord. Niemand sagte es ihr je direkt ins Gesicht, aber sie wusste, dass man darüber redete. Auch sie fand den Ton des Abschiedsbriefs an die kleine Karla eigentümlich, sie hatte ihn der Tochter nie gezeigt, zumal sie keine Eifersucht unter den Kindern schüren wollte. Anna Egidia bewahrte diesen letzten Brief aus Grönland auf, las ihn aber nie wieder. Ihr brach der Angstschweiß aus, wenn sie an ihn dachte. Vielleicht hatte Carls Tod weit schlimmere Ereignisse verhindert. Aber Selbstmord, nein, niemals. Nicht Carl. Er mochte seine dunklen Augenblicke gehabt haben. Er hatte seltsame Ideen, in der letzten Zeit vor allem über sie und ihre Ehe. Seinen Wunsch, wieder in die Hauptstadt zu ziehen, teilte Anna Egidia nicht, sie hatte es ihm offen gesagt. Sie hatten ihr Leben hier in Marstal, in dem großen hellen Haus, in dem die meisten ihrer Kinder geboren wurden. Die Großen erinnerten sich nicht einmal mehr an die Zeit in Kopenhagen.
Die Gerüchte über Carls Selbstmord hielten an. Ihr blieb nichts, als sie zu ignorieren. Sie kannte den Grund. Die Gerüchte entsprangen nicht Neid oder Bosheit, sondern entstanden aus dem Wissen der Seeleute über ein Schiff. Man verstand nicht, wie ein Mann, der wie Carl das Leben auf See kannte, an einem Tag über Bord fallen konnte, an dem lediglich eine mäßige Brise wehte. Und sie hatten recht. Die Reling am Heck der Peru war relativ niedrig. Dennoch schien es kaum wahrscheinlich, dass man aus reiner Zerstreutheit über Bord fiel. Der trockene Sachverstand eines Seemanns kam zu einer anderen Schlussfolgerung. Carl war nicht über Bord gefallen. Er war gesprungen.
Anna Egidia kannte den Kleinstadtklatsch und wusste, welch blühende Fantasie auch durchaus fantasielose Menschen entwickeln, wenn es darum ging, anderen die schlimmstmöglichen Motive zu unterstellen. Doch weiter gingen die Gerüchte nicht. Niemand dachte über das Motiv eines eventuellen Selbstmords nach. Jedem leuchtete ein, dass ökonomische Probleme Carl kaum zu einer so dramatischen Handlung gezwungen haben konnten. Ökonomisch war er bestens konsolidiert. Dafür sorgte sein guter Ruf als Maler. Und Anna Egidia wurde zu sehr respektiert, als dass jemand auf den Gedanken gekommen wäre, ihre Ehe für den Grund zu halten. Das Geheimnis hätte sich nur in Carls eigenem Kopf finden lassen, aber da ein Künstler für den gemeinen Mann ohnehin ein Mysterium ist, trugen die Gerüchte über seinen Selbstmord eher dazu bei, seinen Ruhm zu mehren. Dennoch reagierte Anna Egidia, als würde sich in den Gerüchten eine indirekte Anklage verbergen. Es schien, als wollte sie mit ihrer geschäftigen, alles umfassenden Gestalt das Mausoleum sein, in dem Carl begraben lag. Hier sollte die Erinnerung an den hellen Maler und glücklichen Ehemann weiterleben.
Als Anna Egidia alt wurde, sah sie ein, dass die Gerüchte
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