Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
unwiderstehlichen Fluss anschwollen. Es war der kobaltblaue Eisberg, den er mit ein paar Pinselstrichen anzudeuten gewagt hatte. All das repräsentierte der Fleck auf der Leinwand – das eigentliche, unerkannte Kraftfeld seines Lebens.
Carl stand mit erhobenem Pinsel vor der Leinwand und zögerte.
Er trat einen Schritt zurück, möglicherweise, um sein Bild besser betrachten zu können, möglicherweise, um für einen Moment innezuhalten und einen Entschluss zu fassen.
Er trat noch einen Schritt zurück.
Der Rudergänger blickte zerstreut über das Meer. Gegen Mittag hatten sie die Bramsegel gesetzt, das Schiff segelte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit.
Die Uhr zeigte zehn Minuten nach fünf, die Position war 59°4’ nördliche Breite und 0°1’ östliche Länge.
Irgendetwas peitschte das Wasser. Gab es so weit südlich noch Wale? Ein Brausen ertönte, als würde das Meer sich plötzlich zu allen Seiten des Schiffs erheben und es hinter eine Mauer aus Wasser sperren. Das Geräusch wurde ohrenbetäubend.
Carl wäre nicht imstande gewesen zu sagen, woher die Gestalt kam. Ob es sich um den grauen unfertigen Fleck auf seinem Bild handelte, der plötzlich Form annahm, oder ob sie tatsächlich aus der Kombüsentür trat, wo er sie auf seiner Leinwand untergebracht hatte. Aber etwas stand außer Zweifel. Es war Jonas, der mit leichten, elastisch federnden Schritten über das Deck auf ihn zukam und seine Arme in dem grauen Robbenfellanorak ausbreitete. Sein wettergegerbtes, zerfurchtes Gesicht schaute mit einem breiten Lächeln unter der pelzgefütterten Krempe des Hutes hervor; Carl erinnerte sich an das Lächeln, das er vor der Kirchenruine auf Hvalsø gesehen hatte. Jonas war endlich gekommen. Gekommen, um ihn auf die letzte Reise mitzunehmen.
Es war der Moment der Kapitulation.
Dann schlug das Wasser über ihm zusammen.
Carl dachte nicht. Sein Herz dachte für ihn. Er spürte nur noch sein wildes Hämmern. Seine Arme begannen mit Schwimmbewegungen, die Beine traten nach unten, als wäre der Grund des Ozeans nah, als könnte er sich dort abstoßen, um wieder an die Oberfäche zu gelangen. Blasen wirbelten um ihn herum auf, sein Vorrat an Luft, die ihn nun verließ. Der Auftrieb der Lungen reichte nicht aus. Die schwere Kleidung zog ihn hinab. Noch immer vollführten die Arme Schwimmbewegungen, suchten die Füße vergebens nach festem Grund. Das bodenlose Meer zerrte an ihm.
Sein Herz schlug Alarm. Wie Wellenschläge pochte sein Blut an das Ohrinnere, aber tief in ihm herrschte Stille, eine Widerstandslosigkeit, die Einverständnis gleichkam. Jonas schwamm an seiner Seite. Langsam bewegte er die Arme, als würden sie nach und nach zu Flossen, die sich dem Wasser anpassten. Carl erkannte undeutlich sein Lächeln.
Wie an einem gewaltigen Berghang glitt er den Schiffsrumpf entlang. Er sah den überwucherten Kiel von unten. Er sank und sank. Tauchte hoch über ihm eine blasse Sonne auf oder war es die letzte Luft, die seine Lungen verließ und zu der immer ferneren Meeresoberfäche aufstieg?
Jonas streckte eine Hand nach ihm aus. Er nahm sie und hielt sie fest.
Carl verspürte keine Neugier oder Erwartung, aber auch keine Trauer bei dem Gedanken an den Abschied vom Leben. Den ganzen langen Sommer hatte er in Abschied und Trauer verbracht. Seine Liebsten meldeten sich nicht in diesen letzten Augenblicken, keine Stimmen, nichts. Er sah einen Mann, dem man die Ohren abgeschnitten hatte, ein paar leere Stiefel, ein Hinrichtungskommando vor einer Wand, Reste von weißer Gehirnmasse, verspritzt über eine Mauer, eine Kirche in Ruinen. Er sah Gottes Hände vor der unendlichen Fläche des Inlandeises niedersinken. Er sah verschlungene Körper im Licht einer Tranlampe, einen Eisbärenschädel, Schimären, die gleichzeitig Mensch und Tier waren, ein wieherndes Pferd, das in die leere Luft trat. Er sah Jesus als Frau mit entblößten Brüsten, und das Meer um ihn füllte sich mit Walen, Eisbären, Robben und ertrunkenen Männern und Frauen, einige aufgedunsen, andere säuberlich von allem Fleisch befreit, wieder andere nackt und gleichsam gereinigt durch den Aufenthalt im Wasser. Er sah ein Paar leuchtender Augen, die ihn kobaltblau anstrahlten, und er verstand, dass ihn in seinen letzten Momenten all die unbemalten Leinwände seines Lebens umgaben.
Es gab keine Reue. Auch die Reue hatte ihre Zeit gehabt.
Nur sein Herz widersprach ihm. Sein Herz hatte Angst. Sein Körper wollte nicht. Das Wasser, das immer kälter
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