Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
ihres Lebens bleiben. Erst die Kinder. Später würden die Enkel folgen.
Anna Egidia ging zurück ins Haus, während Carl im Golfstrom die norwegische Küste entlangglitt. Bald begann er eine Reise in die entgegengesetzte Richtung, zum kanarischen Strom, und von dort würde er sich in alle Richtungen verteilen, in einem beständigen Kreislauf, erst zwischen Afrika und Südamerika, dann mit dem Zirkumpolar-Strom durch den Indischen Ozean bis zum Pazifik, als hätte er nicht eine einzige Seele, sondern tausende, die eine nach der anderen in die Wesen übergingen, denen sein sich zersetzender Körper Nahrung lieferte.
Viele Jahre später, als Carls Überreste sich längst in die Schlammschicht gebettet hatten, die tief unten den Grund des Ozeans bedeckt, sollte Anna Egidia oft an diesen Tag zurückdenken, den ersten Tag in ihrem Leben als Witwe; einer Rolle, zu der sie auf eine merkwürdig beunruhigende Weise geeignet zu sein schien. Sie sah sich selbst mit dem Telegramm in der Hand unter dem blattlosen Maulbeerbaum und sie sah nichts anderes als ein Schulmädchen. Eine Mutter von acht Kindern, soeben Witwe geworden, und doch nichts anderes als ein Schulmädchen. Sie ging in die Schule des Todes.
Doch was wollte der Tod ihr beibringen, was sie nicht bereits wusste?
Sie dachte oft darüber nach, dass die Sprache keinerlei Bezeichnung für das hat, was schließlich aus ihr wurde. Eine Frau, deren Mann stirbt, wird Witwe genannt. Ein Witwer hat seine Frau verloren, ein Vaterloser seinen Vater, vermutlich als Kind oder in jungen Jahren, eine Mutterlose ihre Mutter. Kinderlose hatten nie Kinder, ihr Verlust war daher von anderer Art. In ihrem Fall hat nicht der Tod jemanden entrissen, sondern das Leben, das ihnen nicht die Hand reichte.
Aber wie heißt eine Mutter, die ihre Kinder verliert?
Ist der Gedanke so grauenvoll, dass selbst die Sprache sich verweigert?
Zwei Jahre, nachdem Carl nach vielen unterschiedlichen Aufenthaltsorten im Magen einer gesprenkelten Robbe durch einen schwojenden Wald aus Riesentangblättern schwamm, erlag Hans Otto, erst vierzehn Jahre alt und gerade konfirmiert, dem Gelenkrheumatismus. Drei Jahre später, als ein Rest von Carl gerade über dem Kontinentalsockel in der Zwielichtzone des Meeres verschwand, starb Jens Christian in einem deutschen Tuberkulose-Sanatorium. Er wurde achtzehn Jahre alt und war ein vielversprechender Kunstmaler, doch das Leben brach seine Versprechungen. Zwei Jahre später folgte ihm Anne Marie ins Grab. Alle sagten, sie wäre so anmutig und intelligent, aber ihr blieben nur fünfzehn Jahre, um ihre Anmut mit anderen zu teilen. Carl bettete sich in der meterdicken Schlammschicht der Tiefsee-Ebene in tausend Meter Tiefe, wo er zwischen Schlacke ruhte, die vorbeifahrende Dampfer so hoch über ihm über Bord geworfen hatten, dass die Schiffe aussahen, als führen sie am Himmel; die treibenden Wolken schienen nichts anderes als Wellen zu sein, die von ihren Steven zerteilt wurden.
Anna Egidia hatte zehn Jahre Ruhe.
Ihr blieben noch fünf Kinder. Sie war Ende fünfzig. Und gewiss, dass die Letzten diesem Schicksal entgehen würden.
Dann traf es Helga. Die sanfte Ellen starb an Typhus. Karl Johan, der als Einziger zur See fuhr, wurde an Bord eines Marstalschoners in den letzten Kriegsmonaten von den Deutschen erschossen. Als das brennende Schiff unter seinem bereits leblosen Körper sank, begann er die gleiche Reise wie Carl. Blieben noch zwei.
Doch der Tod ließ Anna Egidia niemals in Ruhe. Er lief hinter ihr her und tippte ihr auf die Schulter, wenn sie es am wenigsten erwartete.
»Schau, was ich kann«, sagte er und nahm sich ein weiteres Kind.
Schließlich wurde sie so alt, dass sie glaubte, das letzte Schultertippen müsse ihr gelten. Da holte der Tod Karla. Sie war die Jüngste gewesen, Anna Egidia hatte sie am längsten behalten dürfen. Karla wurde vierzig Jahre alt. Die Mutter, die sie geboren hatte, war doppelt so alt, als sie sich im Krankenhaus von Ærøskøbing voneinander verabschiedeten.
Es gab Zeiten, in denen Anna Egidia dachte, die Welt wäre ein ewig sinkendes Schiff und die Zeit ein schwarzes Meer, das stetig anstieg.
Aber jedes Mal dachte sie nie sehr lange so.
Als Ellen starb, fing sie an, die Todesfälle als eine Art Schule anzusehen. Mit jedem Kind, das starb, kam sie eine Klasse weiter. Bei Helgas Tod wurde sie in die vierte Klasse versetzt. Bei Ellen in die fünfte, bei Karl Johan in die siebte. Andere Mütter hatten
Weitere Kostenlose Bücher