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Raststätte Mile 81

Raststätte Mile 81

Titel: Raststätte Mile 81 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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schwerer, als mit dem Rauchen aufzuhören. Wenn ich nächstes Mal wieder vom Kurs abkomme, machst du mit dem Zeigefinger eine Art Sägebewegung vor deiner Kehle, okay?«
    »Okay«, sagte ich ganz bereitwillig. Inzwischen war ich auf die Idee gekommen, dass das alles vielleicht nur ein Traum war. Dann allerdings ein äußerst lebensechter Traum, bis hin zu den von dem Deckenventilator geworfenen Schatten, die über die Tischsets mit der Aufschrift UNSER WERTVOLLSTES KAPITAL SIND SIE! marschierten.
    »Um es kurz zu machen: Ich bin zum Arzt gegangen und hab mich röntgen lassen, und da waren sie, groß wie der Leibhaftige. Zwei Tumore. Fortgeschrittene Nekrose. Inoperabel.«
    Röntgen, dachte ich – wird das noch gemacht, um Krebs zu diagnostizieren?
    »Ich hab noch eine Zeit lang durchgehalten, aber zuletzt musste ich doch zurückkommen.«
    »Woher? Aus dem Krankenhaus? Lewiston? Central Maine General?«
    »Aus meinem Urlaub.« Seine Augen starrten mich aus den dunklen Höhlen an, in denen sie verschwanden. »Bloß war es kein Urlaub.«
    »Al, ich verstehe das alles nicht. Gestern warst du hier, und du warst gesund. «
    »Sieh dir mein Gesicht genau an. Fang beim Haaransatz an und arbeite dich weiter nach unten vor. Versuch zu ignorieren, wie der Krebs mich gerade zurichtet – er entstellt einen ziemlich, so viel steht fest –, und sag mir dann, dass ich derselbe Mensch bin, den du gestern gesehen hast.«
    »Nun, du hast dir offenbar die Haarfarbe rausgewaschen …«
    »Hab nie welche benutzt. Ich erspare es mir, dich auf die Zähne aufmerksam zu machen, die ich verloren habe, während ich … fort war. Ich weiß, dass dir das längst aufgefallen ist. Glaubst du, das kommt vom Röntgen? Oder von Strontium-90 in der Milch? Ich trinke nicht mal Milch, bis auf einen Spritzer in meinem letzten Kaffee am Tag.«
    »Strontium was? «
    »Schon gut. Nimm Kontakt mit deiner, wie sagt man gleich wieder, femininen Seite auf. Sieh mich an, wie Frauen andere Frauen ansehen, wenn sie ihr Alter schätzen.«
    Ich versuchte zu tun, was er verlangte, und obwohl meine Beobachtungen niemals vor Gericht Bestand gehabt hätten, überzeugten sie mich. Von den Augenwinkeln ausgehend, spannten sich Spinnweben aus Falten, und die Lider wiesen die gekräuselten Fältchen auf wie bei Leuten, die an der Kasse eines Multiplexkinos nicht mehr ihre Seniorenkarte vorzeigen mussten. Tiefe Runzeln, die gestern Abend noch nicht da gewesen waren, gruben Sinuswellen in Als Stirn. Zwei noch viel tiefere Falten zogen sich an den Mundwinkeln vorbei nach unten. Das Kinn war spitzer, die Haut am Hals schlaff geworden. Das spitze Kinn und der Kehllappen konnten eine Folge seines katastrophalen Gewichtsverlusts sein, aber diese Falten … und wenn er nicht log, was seine Haare betraf …
    Er lächelte schwach. Ein grimmiges Lächeln, aber nicht ganz humorlos. Was es irgendwie schlimmer machte. »Erinnerst du dich an meinen Geburtstag letzten März? ›Keine Sorge, Al‹, hast du gesagt, ›wenn dieses dämliche Partyhütchen Feuer fängt, während du am Grill stehst, schnappe ich mir den Feuerlöscher und lösche dich.‹ Erinnerst du dich daran?«
    Das tat ich. »Du hast gesagt, nun wärst du ein offizieller Heinz.«
    »Ja, das habe ich. Und jetzt bin ich zweiundsechzig. Ich weiß, dass der Krebs mich noch älter aussehen lässt, aber diese … und diese …« Er berührte seine Stirn, dann einen Augenwinkel. »Das sind authentische Alterstätowierungen. Gewissermaßen Ehrenzeichen.«
    »Al … kann ich ein Glas Wasser haben?«
    »Natürlich. Das ist ein ganz schöner Schock, was?« Er betrachtete mich mitfühlend. »Du denkst: ›Entweder bin ich verrückt, oder er ist’s, oder wir sind es beide.‹ Ich weiß, wie das ist. Ich hab’s selbst erlebt.«
    Er stemmte sich mühsam hoch und griff sich dabei mit der rechten Hand unter die linke Achsel, als versuchte er sich irgendwie zusammenzuhalten. Dann führte er mich hinter die Theke. Dabei wurde mir ein weiterer Aspekt dieser irrealen Begegnung bewusst: Außer bei Gelegenheiten, bei denen ich mit ihm in der St. Cyril’s auf derselben Kirchenbank gesessen hatte (was selten genug vorkam, weil ich kein sehr gläubiger Kattelick bin) oder ihm auf der Straße begegnet war, hatte ich ihn nie ohne seine Kochschürze gesehen.
    Er nahm ein blitzblankes Glas herunter und ließ es aus einem glänzend verchromten Wasserhahn volllaufen. Ich bedankte mich und wollte zu der Sitznische zurückgehen, aber er tippte mir auf

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