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Raststätte Mile 81

Raststätte Mile 81

Titel: Raststätte Mile 81 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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2009)
    Doug Clayton, Versicherungsvertreter aus Bangor, war auf der Fahrt nach Portland, wo er eine Reservierung im Sheraton hatte. Er rechnete damit, spätestens um zwei Uhr dort zu sein. So hatte er reichlich Zeit für ein Nickerchen am Nachmittag (ein Luxus, den er sich selten leisten konnte), bevor er irgendwo auf der Congress Street zu Abend essen würde. Morgen würde er früh und munter im Portland Conference Center erscheinen, sein Namensschild erhalten und mit vierhundert weiteren Vertretern an einer Tagung zum Thema Naturkatastrophen mit dem Titel Feuer, Sturm und Überschwemmung: Elementarschadenversicherung im 21. Jahrhundert teilnehmen. Als Doug am Meilenstein 82 vorbeifuhr, näherte er sich seiner ganz persönlichen Katastrophe – die jedoch nichts mit dem zu tun hatte, was auf der Konferenz in Portland besprochen werden sollte.
    Sein Koffer und seine Aktentasche lagen auf dem Rücksitz. Auf dem rechten vorderen Schalensitz lag eine Bibel (die King-James-Ausgabe; für Doug kam keine andere infrage). Er war einer von vier Laienpredigern der Kirche des Heiligen Erlösers, und wenn er als Prediger an der Reihe war, bezeichnete er seine Bibel gern als »das ultimative Versicherungshandbuch«.
    Doug hatte Jesus Christus nach zehnjährigem Trinken (das im späten Teenageralter begonnen und bis weit in seine Zwanziger gereicht hatte) als persönlichen Erlöser angenommen. Diese ein Jahrzehnt andauernde Sauftour hatte mit einem Totalschaden und dreißig Tagen im Penobscot County Jail geendet. In der ersten Nacht in dieser übel riechenden, sarggroßen Haftzelle war er auf die Knie gesunken und hatte seither jeden Abend auf den Knien gelegen.
    »Hilf mir, besser zu werden«, hatte er bei jenem ersten Mal und seitdem immer wieder gebetet. Das war ein einfaches Gebet, das erst zweifach, dann zehnfach dann hundertfach beantwortet worden war. In ein paar Jahren, glaubte er, würde er tausendfach erreichen können. Und das Beste daran? Zuletzt erwartete einen das Paradies.
    Seine Bibel war ziemlich abgenutzt, weil er jeden Tag darin las. Er liebte alle Geschichten darin, aber die eine, die er am meisten liebte und über die er am häufigsten meditierte, war das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Über diesen Abschnitt des Lukasevangeliums hatte er schon mehrmals gepredigt, und die Gemeinde der Erlöserkirche hatte ihn anschließend immer großzügig gelobt, Gott segne sie.
    Vermutlich lag es daran, dass dieses Gleichnis ihn so persönlich betraf. An dem am Straßenrand liegenden ausgeraubten und verletzten Reisenden war zunächst ein Priester vorübergegangen; das hatte auch ein Levit getan. Und wer kommt dann vorbei? Ein böser, Juden hassender Samariter. Er jedoch ist derjenige, der hilft – Judenhasser hin oder her. Er gießt Öl und Wein auf die Wunden des Reisenden, dann verbindet er sie. Er lädt den Verletzten auf seinen Esel und bezahlt ihm ein Zimmer in der nächsten Herberge.
    »Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?«, fragt Jesus den jungen Staranwalt, der ihn nach den Voraussetzungen für das ewige Leben gefragt hat. Und der Staranwalt, offensichtlich nicht dumm, erwidert: »Der die Barmherzigkeit an ihm tat.«
    Wenn Doug Clayton einen Horror vor irgendetwas hatte, dann davor, wie der Levit in diesem Gleichnis zu sein. Hilfe zu verweigern, wo Hilfe gebraucht wurde. Auf der anderen Seite vorbeigehen. Als er den schlammigen Kombi ein kleines Stück weit in der Einfahrt der ehemaligen Raststätte stehen sah – die umgefahrenen orangeroten Fässer davor, die Fahrertür halb offen –, zögerte er daher nur kurz, bevor er den Blinker setzte und in die Einfahrt abbog.
    Er hielt hinter dem Kombi und schaltete die Warnblinkanlage ein. Als er gerade aussteigen wollte, fiel ihm auf, dass der Kombi hinten kein Kennzeichen zu haben schien – obwohl er so verdammt schlammig war, dass sich das kaum genau feststellen ließ. Doug nahm sein Mobiltelefon aus der Mittelkonsole und vergewisserte sich, dass es eingeschaltet war. Ein barmherziger Samariter zu sein war soweit in Ordnung; sich einer nicht gekennzeichneten Rostlaube ohne Vorsichtsmaßnahmen zu nähern wäre einfach dumm gewesen.
    Mit dem locker in der Linken gehaltenen Handy ging er auf den Kombi zu. Jawoll, kein Kennzeichen, das hatte er richtig gesehen. Er linste durch die Heckscheibe, konnte aber nichts erkennen. Zu viel Schlamm. Er ging auf die Fahrertür zu, dann blieb er stehen

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