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Raststätte Mile 81

Raststätte Mile 81

Titel: Raststätte Mile 81 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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unheimlich freundlich und respektvoll behandelt worden waren. Mit anderen Worten: wie junge Damen.
    Sie besaß noch immer ihren Reisepass und hatte ihn erst letztes Jahr verlängern lassen, obwohl sie vermutlich nie wieder ins Ausland reisen würde. Aber das war mehr oder weniger in Ordnung. Meistens war sie auf der Farm mit Amelia und ihrer bunt gescheckten Menagerie glücklich, aber manchmal vermisste sie die Zeit auf Tournee – die One-Night-Stands, die Kämpfe im Scheinwerferlicht und die raue Kameradschaft der anderen Girls. Manchmal fehlte ihr sogar der oft derbe Kontakt mit dem Publikum.
    »Pack sie an der Fotze, sie ist ’ne Lesbe, das mag sie!«, hatte irgendein schwachsinniger Bauernlümmel eines Nachts gebrüllt – in Tulsa war das gewesen, wenn sie sich recht erinnerte.
    Sie und Melissa, das Mädchen, mit dem sie in der Schlammarena gerungen hatte, hatten sich angesehen, sich zugenickt, waren aufgestanden und hatten sich dem Zuschauerblock zugewandt, aus dem der Ruf gekommen war. Sie hatten mit nichts als ihren klatschnassen Bikinihöschen, mit von Haaren und Brüsten tropfendem Schlamm dagestanden und dem Zwischenrufer gemeinsam den Stinkefinger gezeigt. Das Publikum hatte mit spontanem Beifall reagiert … Der zu stehenden Ovationen wurde, als erst Julianne, dann Melissa sich umdrehte, sich vornüberbeugte, das Höschen herunterzog und dem Arschloch den blanken Hintern zeigte.
    Sie war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass man sich um jemand kümmerte, der hingefallen war und nicht mehr hochkam. Sie war auch in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass man sich keinen Scheiß gefallen ließ – nicht was seine Pferde, seine Statur, seinen Beruf oder seine sexuellen Vorlieben betraf. Sobald man anfing, sich Scheiß gefallen zu lassen, konnte das leicht zur Gewohnheit werden.
    Die CD, die sie gerade hörte, war zu Ende, und sie wollte eben die Auswurftaste drücken, als sie vor sich einen Wagen sah, der ein kleines Stück weit in der Einfahrt zu der ehemaligen Raststätte Mile 81 stand. Seine Warnblinkanlage war eingeschaltet. Vor ihm stand ein weiteres Auto, eine schlammige alte Schrottkiste von einem Kombi. Vermutlich ein Ford oder Chevrolet, die Marke war schwer zu erkennen.
    Julie traf keine Entscheidung, weil es keine zu treffen gab. Sie setzte den Blinker, sah dann, dass in der Einfahrt kein Platz für sie sein würde, nicht mit dem Anhänger im Schlepp, und fuhr auf der Standspur so weit nach rechts, wie sie konnte, ohne dass die Räder im weichen Untergrund neben dem Asphalt versanken. Jetzt das Pferd umzuwerfen, für das sie gerade achtzehnhundert Dollar bezahlt hatte, wäre das Letzte gewesen.
    Hier war vermutlich nichts Ernstes vorgefallen, aber nachzusehen konnte nicht schaden. Man wusste nie, ob nicht gerade irgendeine Frau beschlossen hatte, auf der Interstate ein Baby zu bekommen, oder irgendein Kerl, der hilfsbereit gehalten hatte, vor Aufregung in Ohnmacht gefallen war. Julie schaltete ihre Warnblinkanlage ein, die jedoch kaum zu sehen war, weil der Pferdeanhänger die Blinker verdeckte.
    Sie stieg aus und blickte zu den beiden Wagen hinüber, sah aber keine Menschenseele. Vielleicht hatte jemand die Insassen mitgenommen, aber sie hielt es für unwahrscheinlich, dass zwei Autos zur selben Zeit eine Motorpanne haben sollten. Wahrscheinlich waren die Fahrer zu dem Restaurant weitergegangen. Julie bezweifelte, dass sie dort viel finden würden; es war seit letztem September geschlossen. Sie selbst hatte oft an der Raststätte Mile 81 gehalten, um sich eine Waffeltüte mit Frozen Yogurt zu holen, seither holte sie sich ihren Imbiss zwanzig Meilen weiter nördlich, bei Damon’s in Augusta.
    Sie ging nach hinten zu dem Anhänger, und ihr neues Pferd – das DeeDee hieß – streckte das Maul heraus. Julie streichelte über die Nüstern. »Ruhig, Baby, ganz ruhig. Das dauert nur einen Augenblick.«
    Sie öffnete die zweiflüglige Hecktür, um an die Werkzeugkiste an der linken Wand heranzukommen. DeeDee fand, dass es eine günstige Gelegenheit war, dem Anhänger zu entfliehen, aber Julie versperrte ihr mit einer massigen Schulter den Weg und murmelte dabei wieder: »Ruhig, Baby, ganz ruhig.«
    Sie klappte den Deckel der Stahlkiste auf. Auf dem Werkzeug lagen ein paar Warnfackeln und zwei Mini-Warnkegel in fluoreszierendem Pink. Julie hakte je einen Finger in die hohlen Spitzen der Kegel (an einem allmählich aufklarenden Nachmittag waren Warnfackeln überflüssig), klappte den Deckel zu und

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