Rattentanz
Kindertagen so ziemlich jeden einzelnen Tag miteinander verbracht. Bis auf die drei Jahre, in denen sie etwas mit ihrem damaligen Chef hatte. Aber das war jetzt bald vier zig Jahre her und fast schon nicht mehr wahr. Allerdings, die Folgen dieser drei Jahre waren bis zum heutigen Tag noch spürbar. Damals arbeitete Adelheid Nussberger als Sekretärin in einem Großhan delskonzern. Ihr Chef bekam den Auftrag, in Meran die erste Nieder lassung außerhalb Deutschlands aufzubauen. Die Mitarbeiterin, die er bat, mitzukommen, war sie. Es folgten die beiden schönsten Jahre ih res Lebens. Tagsüber konnte sie ihm aus dem Nebenzimmer von ih rem Schreibtisch aus bei der Arbeit zusehen und nachts war er ihr so nahe wie niemals wieder ein anderer Mann, von denen es in ih rem Le ben nur wenige gegeben hatte. Dass er verheiratet war und Kin der hatte, störte sie erst, als er sie fragte, ob sie ein Kind von ihm wollen würde. Natürlich hätte sie gewollt! Nichts lieber als das! Aber nein, scheiden lassen wollte er sich nicht, seiner Kinder wegen.
Sie hielt es nach der Rückkehr aus Meran noch ein weiteres Jahr mit ihm aus. Montag bis Freitag lebte er bei ihr in einer kleinen Wohnung in Waldshut, am Wochenende wohnte er bei seiner Frau und den Kindern. Diese Wochenenden waren schlimm und einsam, voller Gedanken und Fantasien. Während er dort war, wo er eigentlich hingehörte und vor seinen Kindern den liebevollen Familienvater mimte, saß sie allein in ihrer Wohnung und trank. Nur mit Rotwein konnte sie die Bilder in ihrem Kopf ertragen: Sie sah ihn mit seiner süßen Tochter auf dem Schoß, sie sah ihn, wie er am Abend seinen Söhnen Stevensons Schatzinsel vorlas. Sie sah ihn, wie er am Sonntagnachmittag im Kreis seiner Familie am Kaffeetisch saß und sich von den Kindern erzählen ließ, was in der vergangenen Woche alles geschehen war, in der Woche, in der sie, Adelheid Nussberger, den Kindern ihren Vater stahl. Und sie sah ihn, wie er Freitag-, Samstag-und Sonntagabend zu seiner Frau ins Bett stieg. Rotwein nahm ihr die Träume.
Und dann blieb ihre Regel aus. Obwohl sie den Grund hierfür von Anfang an wusste, brauchte sie doch Wochen, um zuerst sich, schließlich auch ihm die Schwangerschaft zu gestehen. Es ist nicht so, versuchte sie sich zu beruhigen. Nur ein Aussetzer. Mein Körper hat einmal vergessen zu bluten. Na und? In vier Wochen wird alles wieder ganz normal sein! Die Übelkeit schrieb sie der Aufregung und dem Rotwein zu, die Schmerzen in den Brüsten einer Hormonschwankung (Die aber nichts mit Schwangerschaft zu tun hatte!). Ihre Regel ließ auch einen Monat später auf sich warten und ihr Gynäkologe sprach schließlich aus, was sie längst wusste, aber nicht hören wollte. Und er gratulierte ihr!
Der Mann, dem sie diesen Zustand zu verdanken hatte, reagierte mit Fassungslosigkeit und Entsetzen. Dann sagte er, dass er sie liebe. Und selbstverständlich die Abtreibung bezahle, es sei doch hoffentlich noch nicht zu spät, das Kind noch nicht zu groß? Das Kind. Ihr Kind. Adelheid Nussbergers Kind! Das Kind, das sie ermordete – zerstückelt im Leib der eigenen Mutter, der doch eigentlich Sicherheit und Heimat sein sollte. Zerstückelt, herausgepresst und weggeworfen wie unnötiger Ballast. Und im selben Maße, in dem dieser Ballast stück chenweise aus ihrem Körper blutete, lud Adelheid Nussberger damals die Gewichte ihres Lebens auf ihre Schultern: Schuld, Angst vor Gott und seinem Urteil, Hass auf den Mann, der sie zu dem gemacht hatte, was sie nun war – eine Mörderin.
Sie hatte sich nie wieder von ihm anfassen lassen und nur drei Tage nach ihrer Tat seine Sachen gepackt und vor die Tür gestellt. Und sie hatte das Schloss ihrer Wohnung austauschen lassen. Er brach die Tür auf, angeblich, weil er seinen Rasierapparat noch holen wollte, und hinterließ zweihundert Mark auf dem Küchentisch. Für die beschädigte Tür. Oder für meine Dienste!, dachte sie damals. Dann betrank sie sich und zerriss die Scheine in winzige Schnipsel.
Nie wieder hatte sie sich so mies gefühlt wie an diesem Tag vor vier zig Jahren. Und wäre ihr Bruder damals nicht gewesen, wer weiß, was dann der Alkohol aus ihr gemacht hätte.
So aber rettete er sie und nahm sie wieder mit nach Wellendingen. Von dem Mann, der drei Jahre ihres Lebens gestohlen und ihre dürren Schultern mit Bleigewichten ausgegossen hatte, hörte sie nie wieder etwas. Soviel zum Thema: Du bist das Wichtigste in meinem Leben.
Männer gab es danach keine
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