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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Aber jetzt schlief er wieder tief und fest. Und wahrscheinlich hatte er den Daumen im Mund, während seine andere Hand zwischen den angewinkelten Knien liegt, wie bei einem kleinen Kind. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte Fuchs nicht atmen hören. Kein Geräusch aus dessen Richtung, keine Bewegung, nichts. Als wären er selbst und Mehmet allein. Er versuchte seinen Durst zu ignorieren, aber seltsam, egal an was er auch dachte – den toten Bullen vor dem Revier, den anderen, dem er das mit seinem Bein zu verdanken hatte oder die Leute am Morgen vor der Sparkasse –, immer wieder schob sich das Bild eines frisch gezapften Bieres vor sein inneres Auge. Mal war es auch ein Gebirgsbach, frisch und klar, er konnte das Plätschern des Wassers hören, es riechen.
    Kann Wasser riechen?
    Ritter wälzte sich auf die andere Seite.
    Warum war Fuchs so still? Beobachteten ihn seine Ohren? Warte te er nur darauf, dass Ritter einschlief, um ihn dann im Schlaf zu tö ten? Der Gebirgsbach sprang ausgelassen über blank polierte Steine. Gräser und gelbe Blumen säumten den Weg des Wassers und in den winzigen Tropfen, die wie tanzende Kinder hoch in die Luft sprangen, spiegelte sich dunkelrot die Sonne. Blutrot.
    Aber nein, überlegte Ritter, Fuchs würde ihm nichts antun. Sie wa ren aufeinander angewiesen. Sich gegenseitig zu töten wäre ein klassisches Eigentor. Das Wasser war blutrot! Es war Blut, das durch das Bachbett tobte, rechts und links standen hässliche Fratzen Spalier, die Fratzen dieses Tages. Sie waren alle da und starrten mit leerem Blick ins Wasser. Ins Blut.
    Sollte er hier irgendwo in eine Ecke pinkeln?
    Ihn schauderte bei dem Gedanken, in einem Raum zu schlafen, in den er auch urinierte. Morgen, dachte er, morgen werden wir hier raus kommen. Morgen. Wie wohl der Tote aussieht, in den Mehmet seine Hände gesteckt hatte? War es ein Mann, eine Frau, ein Kind? Aus dem Zapfhahn schoss ein dicker Strahl goldenes Bier.
    Amputieren.
    Blutiges Bier.
    Fuchs, du hast das Bein gestohlen.
    Pinkeln, bitte, nur ein bisschen.
    Endlich, es war inzwischen kurz vor drei am Morgen, schlief er ein.
    Hermann Fuchs hatte die Beine angezogen und die Arme um sie geschlungen. Er sah hinauf zu den kleinen Lichtpunkten und überlegte, welcher Raum darüber sein könnte, um welche Lichtquelle es sich wohl handeln mochte. Fuchs war nicht müde. Nicht heute, nicht in dieser Nacht. Er spürte das Geldbündel an seiner Brust und ihm kam zum ersten Mal der Gedanke, dass es wertlos sein könnte. Konnte ihn das Geld hier rausbringen? Konnte er sich damit freikaufen? Konn te er es essen oder trinken? Und selbst wenn er hier wieder rauskommen sollte, wie würde diese neue Welt da draußen in Zukunft funktionieren? Würde es noch Geld geben oder nur Tauschhandel und das Gesetz des Stärkeren?
    Er war an diesem Morgen auf dem Weg zum Sozialamt gewesen, um sich sein Geld für die zweite Monatshälfte abzuholen. Früher hatte er den kompletten Betrag am ersten oder zweiten des Monats erhalten, aber weil er regelmäßig spätestens am zehnten mit leeren Taschen und Alkoholfahne wieder im Amt aufgekreuzt war, hatte dieses die Teilzahlung eingeführt.
    In ihm gierte alles nach einer Zigarette und einem Schluck hinterher.
    Später. Wenn er erst mal hier raus war.
    Irgendwann schlief er doch ein. Als er erwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Er fühlte sich benommen, wie nach einer durchzechten Nacht, und rieb sich die Augen. Dann kam die Erinnerung zurück.
    Mehmet lag mit offenem Mund auf der Seite und schlief, Ritter ebenso, nur saß der an die kalte Wand gelehnt und hatte sein Bein von sich gestreckt. Unter der zerrissenen Hose konnte Fuchs die Wunde erkennen, sie sah furchtbar aus. Sie sah furchtbar aus? Sehen?
    Sein Blick ging zur Decke, dahin, wo in der Nacht die Lichtpunkte waren.
    Über ihm wölbte sich eine Milchglaskuppel!
    Genau über dem Operationstisch war ein quadratisches Fenster in der Decke eingelassen, vielleicht zwei Quadratmeter groß. Und dahinter kletterte die Dämmerung übers Land. Noch war der Himmel ein blaugraues Gemisch aus Nacht und Tag, aber das diffuse Licht reichte aus, um Einzelheiten erkennen zu können, um zu sehen.
    »Es waren Sterne!«
    Der ansonsten fensterlose Raum war sicher vier Meter hoch, Boden und Wände grün gefliest. Sehr weit oben sah er mehrere Gitter an der Wand, vermutlich die Klimaanlage. Das Fenster war fest verschlossen, kein Scharnier konnte Fuchs erkennen, keinen Motor zum

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