Rattentanz
noch, wie sie in ihre Vorräte stürzte und mit einem Schrei über den Asphalt rollte, dann traf ein zweiter Brocken den Bus. Beck verlor das Gleichgewicht und stürzte auf Thomas zu. Dessen einziges Augenmerk galt noch immer der Hölle, die seine Tasche gefressen hatte.
»Vorsicht!« Beck prallte gegen Thomas, riss ihn mit sich und beide stürzten auf das verkohlte Metall, dahin, wo Eva vorhin die Bruchstücke der einstigen Seitenaufschrift entziffert hatte.
Der Felsbrocken hatte im Fallen eine Unzahl kleinerer Steine losgerissen, die nun als irdener Regen auf die beiden Männer niederprasselten.
»Springt! Schnell, springt!« Eva stand auf der sicheren Seite des Fahrzeuges. Aber es war zu spät. Beck, von der Kraft seines eigenen Ab sprungs überrascht, rollte über Thomas hinweg. Seine Hände suchten nach einem Halt, griffen daneben, rutschten ab. Schließlich spürte er Leere unter sich.
»Nicht da lang«, hörte er Thomas sagen (nicht schreien), dann rutschte er langsam vom vorderen Teil des Busses, unter sich gähnendes Nichts.
Der aufgewirbelte Staub nahm Hermann Fuchs einige wichtige Sekunden die Sicht. Es hatte geklappt! Jetzt musste er nur noch warten, bis der Staub sich verzogen hatte, dann konnte er seinen Sieg aus luftiger Höhe bewundern. Fuchs hatte sich selbst als Brechstange benutzt. Mit beiden Händen an einer aus der Abbruchkante ragenden Wurzel hängend, hatte er sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den locker sitzenden Felsbrocken gestemmt, hatte gewippt und schließlich bemerkt, dass das Vor und Zurück jedes Mal etwas größer wurde, der Fels sich weiter lockerte. Unter sich hörte er währenddessen die Stimmen der beiden Männer und der Frau. Sie hätten nur ein einziges Mal den Kopf heben müssen, nur ein kurzer Blick in die Höhe und alles wäre umsonst gewesen. Schlimmer noch, er hätte sie von seiner Anwesenheit informiert und einen neuen Anschlag auf lange Zeit hin unmöglich gemacht.
Aber niemand interessierte sich für die kleinen Kiesel, die sich ab und an lockerten und hinabfielen. Niemandem war die Gefahr bewusst, in der sie schwebten und dann, endlich, spürte Fuchs, wie der Fels unter ihm wegbrach. Er klammerte sich an die Wurzel und zappelte einen Moment in der Luft, bevor seine Füße neuen Halt fanden. Und wieder brach ein Brocken unter ihm weg, diesmal unbeabsichtigt, aber nicht minder willkommen. Das Glück war auf seiner Seite!
Mit einem letzten Kraftakt schwang er sich schließlich zurück auf sicheres Terrain. Schweiß perlte von seiner Stirn, lief ihm in die Augen und brannte. Er aber spürte nur das überwältigende Gefühl seines Sieges. Die Frau schrie und das Geräusch, das der auf das Metall krachende Fels verursachte war Musik in seinen Ohren.
Als die Staubwolke endlich an Transparenz gewann, ließ, was er sah, sein Herz höherschlagen: die Frau stand unterhalb des Busses auf der Straße und streckte sich nach oben. Dort stand dieser Irre aus dem Krankenhaus und – der Sieg war gewiss – der Polizist zappelte über dem Abgrund der Wutachschlucht und hielt sich mit offensichtlich letzter Kraft am Unterboden des Busses fest!
Eva sprang am Dach des auf der Seite liegenden Busses hinauf – umsonst. Jeder Versuch war Verzweiflung, jedes Anrennen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Während Beck, als er als Letzter die andere Seite verlassen hatte, noch am Untergestänge hinaufklettern konnte und dort Evas hilfreiche Hand wusste, waren ihre Versuche, auf den Bus zu gelangen, Ausdruck purer Hilflosigkeit. Sie hörte Becks Schreie von vorn, irgendwo außerhalb ihres Blickfeldes. Thomas stand auf dem Bus und machte keinerlei Anstalten, einem von beiden zu helfen.
Beck hielt sich währenddessen am zuunterst liegenden Vorderrad des Eurostars fest. Seine Fingerspitzen krallten sich in den an den Bremsscheiben festgebackenen Reifen. Der Schmerz zog sich von der Spitze seines rechten Zeigefingers bis hin in Joachim Becks Kopf – eine glühende weiße Linie. Langsam löste sich sein Fingernagel aus dem Nagelbett und Beck schrie und die gegenüberliegenden Hänge der Schlucht warfen seine Schreie leiser zurück, ein Echo, vergänglich wie er selbst. Er strampelte, obwohl er längst wusste, dass es mindestens zwei Sekunden freien Falls bedurfte, um endlich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Aber ebenso wenig, wie man einem Vogel mit gestutzten Flügeln verbieten konnte mit den Flügeln zu schlagen, ebenso wenig war sein Gehirn in der Lage, das
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