Rattentanz
das ihn gerade noch am Leben hielt. Ihm blieb keine Zeit für lange Überlegungen, er begann sein Gewicht zuerst hierhin, dann auf die andere Seite zu verlagern und versetzte somit sich und das Seil in immer größere Schwingungen. Er hatte das Seil fest gegriffen, noch zwei Schwingungen, noch eine, dann schlug das Pendel endlich so weit aus, dass Becks Fußspitze am Unterboden des Busses Halt fand.
Vier Minuten später kletterte er völlig entkräftet auf die Oberseite des Busses.
»Und jetzt meine Tasche.« Thomas Bachmann saß im Schneidersitz vor ihm und zeigte in das nächstliegende Fenster.
»Meine Tasche«, sagte er.
55
11:14 Uhr, bei Trelleborg, Südschweden
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Hans Seger saß am Ostseestrand. Nur ein paar Kilometer trennten ihn noch von Trelleborg. Er weinte wie ein kleines Kind. Vor ihm lag ein leerer Stoffbeutel und ein Laib Brot. Seine Kleider hingen in Fetzen an ihm, er stank nach saurem Schweiß und in seiner blutverkrusteten Rechten hielt er ein zerknittertes Foto von Eva und Lea. Die Ärmel seines weißen Hemdes hatte er aufgeschlagen, sodass die behaarten Unterarme zu sehen waren. Das dazugehörende Sakko hatte er irgendwo auf den dreißig Kilometern von Malmö hierher gegen eine Flasche Apfelsaft getauscht. Seine Hände zitterten. So schnell wurde man also zum Mörder.
Noch vor Sonnenaufgang hatte sich Hans aus dem Hotel geschlichen und die Stadt Richtung Süden verlassen. Er wollte nach Trelleborg und hoffte, dort ein Schiff zu finden, das ihn nach Deutschland brächte, einhundert Kilometer über die Ostsee. Die Tankerexplosion vor den Toren Malmös, die einen der Pfeiler der Öresundbrücke zum Einsturz gebracht und unzählige Menschen in den Tod gerissen hatte und für eine der schlimmsten Ölkatastrophen an den umliegenden Stränden verantwortlich war, hatte den sicheren Rückweg nach Dänemark und Deutschland unpassierbar werden lassen. Ihm blieben nur noch der Weg über die Ostsee oder aber die Tausende von Kilome tern lange Alternative durch Skandinavien, an Sankt Petersburg vorbei durch das Baltikum und Polen.
Kurz vor Trelleborg war er vor einer Stunde auf einen alten Mann getroffen, der unter einem Baum saß, vor sich zwei Weißbrote und ei ne Flasche Rotwein. Nils Svensson. Die Brote waren alles andere als frisch, knochentrocken und an einigen Stellen bereits von hellgrünem Schimmel überzogen.
Ole Gustavson hatte die Brote in seiner Bäckerei in der nahen Stadt gebacken und – kurz bevor die Computerviren aktiv geworden waren – an Karla Lindblom verkauft. Die wurde am selben Abend in ihrem Haus überfallen und beraubt. Der neue Eigentümer der Brote hieß daraufhin Sven Carlund. Der tauschte sie noch in derselben Nacht gegen eine Flasche Wodka. So kamen die Brote zu Lasse Andersson, der mit seinem Wagen Trelleborg verließ. Vor den Toren der Stadt kam er beim Versuch, einem hässlichen Unfall auszuweichen, von der Straße ab, verlor die Kontrolle über den Wagen und raste frontal ge gen eine Betonmauer. Er war auf der Stelle tot.
Als Nils Svensson vor zwei Stunden an der Unfallstelle vorbeikam, fand er auf dem Beifahrersitz die beiden Brote sowie im Kofferraum kistenweise Wein und Schnaps, von denen aber nur eine einzige Flasche Wein das Unglück überstanden hatte. Eine Fügung, dachte der ausgehungerte Svensson, nahm Brote und Wein und suchte sich ein sonniges Plätzchen unter einem alten Baum, wo er in aller Ruhe das unverhoffte Geschenk genießen wollte. Seitdem war noch keine halbe Stunde vergangen.
Hans Seger hatte nur noch Augen für die schimmligen Brotlaibe im Schoß des Alten. Er hatte sich hinter einem niedrigen Busch versteckt und beobachtete sie. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wahre Sturzbäche, die nach Nahrung gierten, nach Brot, das sie zersetzen durf ten.
Hans hatte vor vierundzwanzig Stunden das letzte Mal etwas gegessen – einen halben Schokoriegel und fünf Erdnüsse. Seine Wangen waren bereits ein wenig eingefallen und den Gürtel seiner Jeans hatte er seit dem 23. Mai ein Loch enger schnallen müssen. Was er in den letzten Jahren so oft vergeblich versucht hatte (abnehmen), geschah nun quasi nebenher, Abfallprodukt eines kleinen Computerpro blems. Computer waren schuld, dass er allein hier durch Südschweden irrte, dass er abnahm, dass er Angst hatte. Und Computer waren auch an dem schuld, was danach geschah.
Der Alte, Nils Svensson, hatte eines der Brote auseinandergebrochen und kratzte den Schimmel mit einem Taschenmesser ab. Nur nicht
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