Rattentanz
von den heiligen Knöpfen in seiner Hose trennen – er hatte Beck erreicht und setzte wie in Trance einen Fuß in dessen verschränkte Hände – und nichts von den Bildern seiner drei Stimmen, die er sicher bei sich trug – er spürte, wie Beck ihn nach oben stieß, direkt auf Eva zu – und erst recht nicht von seiner Tasche – er streckte die Hand nach ihr aus, nach seiner Tasche und Eva packte ihn unter den Armen und zog ihn zu sich auf den Bus. Er riss ihr seinen Schatz aus der Hand, hockte sich hin und vergrub das Gesicht an seiner Tasche.
Ging doch ganz einfach.
Aus einem Augenwinkel perlte eine einzelne Träne. Glück? Trauer? Er hätte es selbst nicht sagen können. Vielleicht Erleichterung. Vielleicht Angst.
Thomas blieb hocken und rührte sich nicht mehr. Er presste die Tasche an seine Brust und beobachtete Eva und Beck, wie Beck mit viel Mühe an der Hinterachse auf den Bus kletterte und wie beide das Gepäck auf der anderen Seite hinabließen. Beck hatte sich vor wenigen Minuten über einen der schmalen Stege zwischen den Fenstern zur Dachkante des Busses gewagt. Dort kauerte er jetzt. Eva warf ihm ein Stück nach dem anderen ihrer Habseligkeiten zu und Beck warf es auf die Straße.
»Jetzt den Handwagen.« Eva schob diesen mit der Deichsel zuerst an das Fenster. Beck konnte den Handgriff gerade eben noch fassen. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihn zu sich.
»Und jetzt der da.« Beck zeigte auf Thomas.
Eva kauerte sich neben Thomas und hielt ihm den Apfel hin.
»Da, ich hatte es dir versprochen.« Thomas drehte sich zur Seite.
»Nur noch dort rüber zu Joachim und schon sind wir alle sicher auf der anderen Seite. Na komm.« Sie wollte soeben Thomas’ Hand greifen, als Zweige und kleine Steine den Hang herabregneten und auf den Bus rieselten.
»Macht jetzt, wir können nicht ewig hierbleiben!« Beck spürte, dass er die Geduld verlor. Der aus dem Bus aufsteigende Gestank verursachte ihm Übelkeit und zu allem Überfluss blutete nun auch die Wun de in seiner Hand wieder. Fette schwarze Schmeißfliegen umtanzten seinen Kopf wie zudringliche Krankheitsboten. Sie rochen das verlockende Gemisch aus Ekel, Furcht und Wut, das sein Körper als duftenden Schweißfilm aus jeder Pore presste. Beck war die willkommene Abwechslung zu all dem verbrannten Fleisch im Bus.
Eva streichelte Thomas’ Haar. Zuerst versuchte der, ihre Hand abzuschütteln, dann ergab er sich in sein Schicksal, zum Schluss (Großmutter?) schloss er die Augen und genoss dieses längst verschüttet geglaubte Gefühl einer zärtlichen Berührung.
Eva zog an seiner Tasche – nicht, um sie ihm erneut wegzunehmen, nein, sie benutzte diese als Köder, ein Angelhaken, an dem Thomas hing und, ihrem Zug folgend, schließlich aufstand.
»Gleich haben wir es geschafft«, flüsterte sie und er folgte mit geschlossenen Augen zu den Fenstern des Busses und dem schmalen Übergang dazwischen.
Das klappt nie!, dachte Eva mit einem Blick nach unten. Ihr Fuß ertastete im Rückwärtsgang den Steg und Thomas kam ihr nach, ganz blind, ganz Vertrauen (Großmutter!).
Beck war aufgestanden und erwartete Eva mit ausgestreckten Händen.
»Ein bisschen nach rechts, nur ein paar Zentimeter«, dirigierte Eva ihren Schützling. Der korrigierte seine Stellung. Er hatte den Steg erreicht, zwei Meter unter ihm lagen Tod und Verwesung in enger Um armung wild durcheinander; verfaulten Biografien und niemals zu Grabe getragene Leben. Als das ungleiche Paar auftauchte, huschte eine Ratte unter ein gegartes Bein und ein Schmetterling taumelte durch die dampfende Fäulnis.
»OH, NEIN!«, schrie Beck plötzlich. »Schnell! Springt!«
Noch ehe Eva verstand, was eigentlich geschah, hatte Beck sie am Arm gepackt und zu sich gerissen. Thomas blieb in der Mitte des Fenstersteges zurück, schwankte und starrte auf die leere Stelle in seinem Arm.
»Weg! Schnell!«
Plötzlich krachte ein erster Felsbrocken auf den Bus. Das Gestein traf den hinteren Teil des Fahrzeugs. Was folgte war ein wildes Zittern. Der Steinschlag vibrierte durch das ganze Fahrzeug und durchlief den Bus von hinten nach vorn, eine träge Woge am Strand. Thomas schwank te und starrte in den Fahrgastraum. Dort, irgendwo zwischen den verkohlten Leichen, lag seine Aktentasche, schwarz auf schwarz. Eva hatte sie ihm aus der Hand gerissen als Beck sie zu sich zog. Und sie hatte seine Tasche fallenlassen!
Beck versuchte Eva zu halten, aber der Bus warf sie ab wie ein Pferd seinen lästigen Reiter. Er sah
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