Rattentanz
Wissen um die Aussichtslosigkeit jeder Beinbewegung in Ruhe umzusetzen. Er strampelte, ein Käfer auf dem Rücken, und spürte, wie ihn langsam die Kräfte verließen. Und strampelte weiter.
Die Tasche!, kreischte Nummer zwei. Schnell, hol sie! Kurzes Zögern, als hätte sie soeben erst einen ersten Blick in den Sarg unter Thomas’ Füßen geworfen. Vielleicht später, vielleicht sollte Eva hinun ter, oder …
Springen wir ihr nach, jaaa!!! Worauf warten wir denn noch? Los jetzt, kopfüber in den Toood. Sieh doch, er wartet und wartet und war- tet. Unser Täschchen ist längst vorgegangen, jetzt sind wir dran! Ge vatter Tod erwartet uns. Sieh hinab! Er hat längst den Tisch gerichtet, ein Mahl aus Würmern, Käfern und schmatzendem, toten Fleisch. Riecht ihr nicht den verlockenden Duft gegrillter Leichen? Ohhh, ich wünschte, der Geruch unseres Fleisches würde endlich heraufsteigen, in unsere Nasen, unser Gehirn und dort das unübertroffene Zentrum des Glücks erreichen, das nur der eigene Hinweggang aktivieren kann.
Thomas konnte seine Tasche nirgends entdecken! Der Polizist hatte ihn zu Boden geworfen, war über ihn hinweggerollt und verschwunden. Er ist uns vorausgegangen! Hört ihr nicht, wie glücklich sein Schreien ist?
Er konnte ihn noch hören, ebenso Eva.
Die ist ja auch in Sicherheit da unten auf der Straße. Da hätte ich auch gut schreien.
Thomas stand auf dem Bus und starrte weiter in dessen Eingeweide. Irgendwo da drin musste seine Tasche liegen, völlig allein, ohne seinen Schutz, hilflos! Er konnte den Schmerz, den sie empfand, fast körperlich spüren. Wo bist du?
»Thomas!«
Wessen Stimme war das?
»Thomas!«
Kam sie aus dem Bus?
»THOOOMAAAS!« Eva trommelte mit beiden Fäusten gegen den Bus. Sie trat gegen das Ungetüm aus Stahl, warf sich mit der Schulter dagegen und schrie, so laut sie nur konnte.
»THOOOMAAAS!«
Endlich hatte er sie gesehen.
»Da.« Das Seil, mit dem sie die Ladung auf dem Handwagen festgebunden hatten, fiel ihm vor die Füße. »Schnell, nimm das Seil und rette Joachim!«
Leg ihm das Seil um den Hals und rette ihn. Nein! Das würde er nicht tun! Die Tasche war wichtiger!
Willst du da hinabsteigen?, Nummer eins mischte sich ein. Hast du Lust, dort unten zu suchen?
Thomas beugte sich über den weit aufgerissenen Fenstermund und starrte hinab. An Becks Fingern brach ein zweiter Nagel aus seiner Verankerung.
Nimm das Seil und rette den Mann. Und vielleicht rettet der dann die Tasche.
Vielleicht?
Huaaah, gehe hin und erhänge ihn. Hilf ihm, beim Eintritt ins Nichts. Sei sein Erlöser und Erretter und beende seine Quaaalen mit diesem gnädigen Strick zu unseren Füßen. Auf, auf – lass uns die Pferde satteln und dem Männlein zu seinem Ende verhelfen!
Thomas bückte sich nach dem Seil.
Er hatte einen Punkt erreicht, an dem er, sinnvoller Selbstschutz ei nes geschundenen Geistes, sämtliche akustische Informationen seiner Sinnesorgane negierte. Er überhörte Evas Flehen und das ewige Hin und Her von Nummer zwei. Die Todessehnsucht von Nummer drei versank ungehört in seinem Kopf, ebenso die klugen Ratschläge der ersten Stimme. Er hatte einen Entschluss gefasst: Der Polizist soll te seine Tasche holen, der konnte das. Und damit dieser in den Bus hinuntersteigen konnte, musste er zuerst auf den Bus geholt werden und das wiederum war seine Aufgabe.
Wie ein Seiltänzer ging Thomas ganz langsam bis ans oben liegen de Vorderrad des Busses. Dort sank er auf die Knie. Er verknotete das Seil am Rad, dann warf er es hinunter, dahin, woher die langsam schwächer werdenden Schreie des Polizisten ungehört durch Thomas’ Kopf sausten.
Schließlich setzte er sich hin und wartete.
Im selben Augenblick, in dem Beck spürte, wie seine Finger von den Reifenresten abglitten, sah er das Seil herunterfallen. War der Kampf verloren? Erledigte, was Ritter und seine Kumpane nicht geschafft hatten nun ein simpler Steinschlag? Beck wusste, er hatte nur diesen einen Versuch! Schon hatte er den Halt verloren, schon begann sein Fall. Da griff er im letzten Augenblick nach dem Seil, bekam es zu fassen, fiel einen weiteren Meter, dann endlich spannte sich das Seil in seiner vollen Länge, er schrie vor Schmerz auf, glaubte, die Arme würden ihm aus dem Leib gerissen, schrie, weil die Wunden in seiner Hand nun erneut aufrissen.
Aber er stürzte nicht weiter!
Beck sah nach oben. Aber dort oben war niemand, nur das irgendwo festgeknotete Seil, seine Nabelschnur, ein dünnes Etwas,
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