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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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auf mit meinem Geschwätz!«
    »Nein, nein, ich wollte mir nur einen Stuhl holen.«
    Der Patient im Nachbarzimmer war inzwischen verstorben. Eva ahnte es, aber sie wollte nicht mehr zu ihm, wollte nicht noch einem Menschen ein Tuch über das Gesicht legen müssen.
    »Bitte, erzählen Sie weiter! Es tut gut, Ihnen zuzuhören.«
    »Und ich langweile Sie wirklich nicht?«
    »Nein. Im Gegenteil.«
    »Und wo war ich stehen geblieben?«
    »Sie wollten erklären, was es mit den Tabletten auf sich hat«, sagte Eva.
    »Ja richtig! Und ich erzähle von Sibirien!« Glück spielte den Entrüsteten und kratzte sich am Kopf. »Verzeihen Sie einem alten Mann, Schwester?« Eva nickte.
    »Olga und ich, wir sind inzwischen schon so lang beieinander, dass wir uns schon lange kein Leben mehr ohne den anderen vorstellen können. Sie ist mein Leben, wissen Sie, und ich bin ihres. Wir würden ohne den anderen eingehen und vor Kummer dahinsiechen. Wir wa ren noch so jung damals, als wir heirateten, sie achtzehn, ich ein Jahr älter. Fünfundfünfzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, mehr als viele Men schen leben, und in all den Jahren haben wir uns nie gestritten, fiel nie ein böses Wort. Deshalb haben wir einen kleinen Vorrat an Schlaftabletten gesammelt und uns versprochen, dass der, der das Pech hat übrig zu bleiben, nicht lang allein bleiben wird. Mein Leben hätte ohne sie keinen Sinn, Schwester. Ich würde nur anderen, fremden Menschen zur Last fallen und keiner wäre da, der nach mir sieht. Das wäre kein Leben mehr. Olga denkt genauso. Wir sind unser Leben und an dem Tag, an dem kein Wir mehr existiert, wird leben zum Warten auf den Tod. Warum dann also nicht selbst ein wenig Schicksal spielen?«
    Glück legte eine Denkpause ein und stützte den Kopf in die hohle Hand. Er sah aus wie ein alternder griechischer Dichter. Sie saßen eine Weile da ohne zu reden.
    »Haben Sie keine Kinder?«, fragte Eva schließlich.
    Glück zögerte, dann antwortete er: »Wir haben zwei Söhne.«
    »Sie sind nicht hier?«, fragte Eva.
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Nikolaj und Wanja sind schon vorausgegangen«, erklärte er.
    »Wohin voraus?«, fragte Eva, obwohl sie die Antwort ahnte.
    »Dahin, wo ich sie endlich bald wieder in die Arme schließen kann«, antwortete Glück und lächelte.
    »Wie …«
    »Nein«, lachte er, »jetzt ist es genug! Ich rede und rede und dabei wird es schon dunkel und Sie haben noch nichts zu Abend gegessen!« schimpfte er und drohte mit einem ausgemergelten Zeigefinger.
    »Ich habe keinen Hunger.« Ihre Antwort klang halbherzig.
    »Sie müssen aber etwas essen, Schwester! Wenn schon nicht für sich, dann wenigstens für Ihr Kleines.« Er sah sie an und streckte die Hand nach ihr aus. Eva ergriff sie.
    In diesem einen Moment, als ob die Berührung eine Tür in ihr aufgestoßen hätte, begann sie zu weinen. Zuerst waren es nur einzelne Tränen, die ihr über die Wangen rollten, aber bald begann sie zu schniefen und schluchzte und als Glück sich zu ihr nach vorn beugte und sie mit vor Schmerzen verzerrtem Gesicht in die Arme nahm, brachen sich die Ängste und Anspannungen dieses Tages Bahn und sie begann hemmungslos zu weinen.
    »Wein nur, Schwesterchen. Weine.«
    Sie hatte sich den Tag über mit Arbeit betäubt und seit dem Stromausfall nichts gegessen und nur wenig getrunken. Sich dafür aber mehrmals übergeben. Um sie herum waren zwei Dutzend Menschen gestorben, inzwischen vielleicht schon mehr, und nur Gott allein wusste, wie es in der Stadt draußen aussah, wie in der Welt. Wie bei Lea und Hans. Sie war Stunde um Stunde von einem Patienten zum nächsten gerannt, als alle anderen längst gegangen waren und Stiller war mehr Belastung dabei denn Hilfe.
    War dieser Tag die Wirklichkeit? Sie schluchzte, als sie wieder an Ritter und Mehmet dachte und wie dieser auf die Leiche nebenan geschossen hatte. War das die neue Realität? War dieser Tag so wirklich wie das Gestern, mit seinen Abendnachrichten und blühenden Wiesen und dem Telefonat mit Hans? War dies das neue Leben, waren Ritter und Mehmet, der trockene Wasserhahn und die blinden Lampen das Morgen und Übermorgen? Eva hatte so abgrundtiefe Angst, fühlte sich verlassen und einsam und wünschte, Hans wäre bei ihr und könnte sie trösten! Nein, sie wollte nicht, dass dies alles wahr sei, dass sie mit Glück hier saß, während sich ringsum die Leichen stapelten. Dies alles durfte einfach nicht wirklich sein und deshalb war sie weitergerannt, immer weiter

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