Rattentanz
Zustand, den ein Mensch erst dann erreicht, wenn sein Tod unmittelbar bevorsteht, er dies weiß und er dies akzeptiert? Glück wirkte so klug und wissend als könnten seine Augen etwas anderes sehen, als könne er mehr sehen als sie selbst, die noch viel zu sehr dem Leben verhaftet war.
»Sind Sie jetzt eigentlich ganz allein hier, Schwester? Wo ist dieser Polizist und wo der kleine Doktor?«
»Dem Polizisten habe ich eine Hose und den Pullover eines …«, sie zögerte verlegen.
»Eines Toten«, ergänzte Glück.
»… gegeben. Er wollte in die Stadt, in seine Wohnung.«
»Schade.« Glück wirkte nachdenklich. »Mit ihm hätten Sie sich vielleicht irgendwie durchschlagen können.«
»Und Dr. Stiller liegt in seinem Büro und schläft und ist morgen früh hoffentlich wieder einigermaßen erträglich!«
Nachdem sie Stiller unter dem Bett hervorgeholt hatte, musste Eva ihm ein starkes Beruhigungsmittel geben. Der Arzt war nur noch ein Schatten, zitterte und redete ununterbrochen von Ritter und Mehmet und den Schüssen. Sie hatte ihm eine Decke auf den Boden gelegt, ihn zugedeckt und ihm, wie einem kleinen Kind, versprechen müssen, die Tür offen zu lassen und nach ihm zu sehen. Das war irgendwann gegen fünf, seitdem schlief Stiller und Eva war mit den Kranken allein.
»Was wird aus Ihrer Frau?«, fragte Eva.
Olga Glück hatte auch heute ihren Mann besucht, kurz nachdem Ritter und sein Gefolge mit viel Lärm die Station verlassen hatten. Er konnte sie beruhigen und hatte ihre weiche, volle Hand lange gehalten. Dann hatte sie, ungeachtet all des Sterbens um sie herum, ihr allgegenwärtiges Strickzeug aus der Handtasche genommen und an einem Socken weitergearbeitet. Sie hatten sich leise unterhalten, sie auf Russisch, der Sprache ihrer Kindheit, und er in seinem knarrenden Deutsch. Er bestand darauf, Deutsch zu reden, es sei eine Frage des Anstandes, schließlich lebten sie ja nun endlich im Land seiner Urgroßväter. Aber ihr war das egal, denn nur in ihrer Muttersprache konnte sie ihm alles erzählen, konnte plappern ohne lange nachzudenken, fühlte sie sich wohl. Deutsch blieb ihr immer fremd und, wenn es sich einmal nicht vermeiden ließ oder Glück mit Nachdruck darauf bestand, kamen die Sätze nur unvollständig und langsam über ihre Lippen und sagten selten das, wozu sie gedacht waren. So hatten beide auch heute zusammengesessen – eine abgeschiedene, einsame Insel der Glückseligen.
Dann beantwortete Glück Evas Frage. »Wenn ich endlich gestorben bin, wird meine Frau Tabletten nehmen.« Eva sah auf. Glück nahm ihre Hand. »Wir haben das schon vor Jahren so entschieden, Schwester und damals war ich noch gesund. Olga und ich, wir lieben uns seit fünfundfünfzig Jahren.« Seine Augen leuchteten, als er weitersprach. »Sie war sechzehn bei unserer ersten Begegnung und ich siebzehn.«
Glück begann, Eva von seiner Kindheit in Moskau zu erzählen, von der riesigen Wohnung, mit Wänden und Fenstern so hoch, dass sie ihn immer mehr an eine Kirche denn Wohnung mahnten, und von seinem Vater, der als Wissenschaftler gearbeitet hatte. Als Hitler seine Kolonnen gen Moskau in Gang setzte, um Bolschewismus und Judentum auszurotten, war es von einem Tag auf den anderen vorbei mit Wohlstand und dem unbeschwerten Leben Aleksandrs. Man unterstellte den Deutschstämmigen, dass sie dem Angreifer näher stünden als dem Land, in dem sie geboren waren und lebten. Glück und seine Eltern wurden in ein sibirisches Lager deportiert und erst nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges 1945 erlaubte man ihnen unter strengen Auflagen, sich in einem kleinen sibirischen Dorf anzusiedeln. Glücks Vater durfte in einer Kolchose Schweine hüten, seine Mutter häkelte kleine Decken und Vorhänge, die eine Nachbarin einmal im Monat mit auf den Markt in die Stadt nahm und dort für sie verkaufte, denn eine der Auflagen für die Beendigung der Lagerhaft war, dass sie die engen Grenzen des Dorfes und seiner morastigen Wiesen und Wälder nicht verlassen durften. Da sei er aufgewachsen, erzählte Glück und trank einen Schluck Mineralwasser.
»Es war nicht leicht, Schwester, besonders nicht für meinen Vater. Er starb auch früh, vielleicht weil er nicht verwinden konnte, dass er Schweine zusammentreiben musste statt neue Formeln zu entwickeln. Aber ich hatte trotzdem eine schöne Kindheit, weil meine Eltern mich liebten. Und weil sie sich liebten, so wie Olga und ich.« Eva erhob sich.
»Oh, Sie haben zu tun und ich halte Sie
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