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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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über die Station geeilt, für alles verantwort lich, allein verantwortlich – nur, um nicht anhalten und nachdenken zu müssen. Sie wollte nicht sehen − aber jetzt, mit geschlossenen, nassen Augen, jetzt begann sie zu sehen. Und was sie sah, machte ihr unsagbare Angst!
    »Bleiben Sie heute Nacht hier. Hier sind Sie sicher.«
    Aleksandr Glück schlug Eva ein gemeinsames Abendessen vor.
    »Kommen Sie, tun Sie einem alten Mann den Gefallen, Schwester. Es ist vielleicht mein letztes Abendessen und«, er verzog das Gesicht, »bisher habt ihr mir ja immer nur Suppe und Brei gegeben.«
    »Ich weiß nicht, ob ich etwas finde. Vielleicht ist ja gar niemand mehr in der Küche.«
    »Sie werden uns schon was Feines mitbringen.« Glück war zuversichtlich.
    »Also gut.« Eva erhob sich. Sie warf das tränendurchnässte Stück Zellstoff in den Mülleimer. »Was wünschen Sie sich? Worauf haben Sie Appetit?«
    »Weißbrot!«, kam es prompt. »Und einen kräftigen Camembert, wenn Sie welchen finden. Wissen Sie, der ist schön weich. Und dazu würde am besten ein Glas Rotwein passen. Haben die hier so was?«
    Eva nickte.
    »Ich kann Sie wirklich allein lassen?«
    »Natürlich, Schwester. Außer dem kleinen Doktor ist doch keiner mehr da, der mir etwas tun könnte, oder?« Das stimmte.
    Stiller schlief noch immer, friedlich wie ein kleines Kind, auf dem Boden in seinem Büro. Sonst gab es keinen Lebenden mehr auf der Station. Nachdem sich auch noch das Notstromaggregat der allgemeinen Arbeitsverweigerung angeschlossen hatte, waren alle innerhalb kürzester Zeit verstorben. Wie Eva es vorausgesehen hatte. Dennoch war sie zu jedem Einzelnen ans Bett gegangen, hatte den Beatmeten die Schläuche aus dem Mund gezogen und allen die Hände gefaltet. Sie tat es für sich. Und sie öffnete die Fenster einen kleinen Spalt. Sie hatte vor Jahren einmal über eine alte Frau gelesen, die, nachdem ihr Mann für immer eingeschlafen war, das Fenster öffnete, damit die Seele hinausschweben und aufsteigen konnte. Sie hatte die Geschichte nie wieder vergessen und öffnete seitdem immer das Fenster ein wenig und hoffte, dass die Seelen ihren Weg fanden.
    Eva bewaffnete sich mit einer Taschenlampe. Am Eingang zur Station kam sie am Aufwachraum vorbei, in dem zwölf Betten mit Verstorbenen standen. In manchen Betten lagen zwei oder drei Tote, zum Teil noch notoperiert, und einige lagen am Boden. Sie kam durch den Wartebereich der Etage und bog, an den Aufzügen vorbei, ins Treppenhaus ab. Gespenstische Stille herrschte in den Fluren, die meisten Türen standen offen und nur in einer Handvoll Zimmer warteten noch Patienten still darauf, dass man sie endlich hole.
    Das Leben ging manchmal seltsame Wege, überlegte Eva. Wie schnell alles doch zusammengebrochen war, wie schnell das in Jahrtausenden mühsam geschnürte Korsett, welches sich Zivilisation nannte, aus allen Nähten platzen konnte. Sie dachte an die Bilder vom Balkankrieg, auf denen sich Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Menschen, die Jahrzehnte friedlich neben-und miteinander gelebt hatten, abschlachteten wie Tiere. Und das im Herzen Europas, nicht etwa im Irak oder im Kongo. Es wäre damals, bei den Bildern vom Krieg im auseinanderfallenden Jugoslawien, wohl kaum jemandem in den Sinn gekommen, dass das, was sich Zivilisation nannte, auch in Deutschland wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen könnte, sollte erst einmal eine der untersten Karten herausgezogen werden. Bisher waren es immer Kriege, die alles wegbrechen ließen. Zuerst ein Konflikt, dann Krieg, dann Anarchie und Elend und Einsamkeit. Was aber folgt, wenn das Wegbrechen zuerst kommt?
    Eva schauderte.
    Sie war inzwischen an der weit offen stehenden Tür zum Speiseraum angekommen. Bis auf das schwache Licht, das die soeben untergehende Sonne zwischen den Bäumen hindurchschickte, war es dunkel. Auf einem Tisch standen einige Schüsseln und Teller und Besteck. Weiße Porzellanscherben zerschlagener Teller lagen herum. Eva durchquerte den weiten Raum und ging an der langen Theke der Speisenausgabe und der alten Registrierkasse vorbei zu einer Tür. Hinter dieser Tür lag ein Flur, der Küche und Speisesaal miteinander verband. In dem fensterlosen Gang herrschte vollkommene Stille. Alles schien verlassen. Im schmalen Lichtkegel der kleinen Taschenlampe, die eigentlich dazu diente, die Pupillenreaktion Hirnverletzter zu prüfen, sah sie, dass fast alle Türen, die vom Flur abgingen, offen standen. Es gab hier mehrere sogenannte

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