Rattentanz
wie die da drin geflucht und geschrien haben, scheint es keinen zweiten Ausgang zu geben.«
»Und Fenster? Was ist mit Fenstern? Was ist, wenn die ein Fenster zerschlagen, runterklettern und dann zu uns zurückkommen?« Stillers Stimme überschlug sich. Es war eine reale Möglichkeit, die ihm da plötzlich Angst in die Brust trieb. Fenster einschlagen. Rausklettern. Zurückkommen.
Zurückkommen!
»Dann wären sie längst hier.«
Der Arzt dachte noch über Becks Worte nach, als Eva alles für den kleinen Eingriff Nötige brachte. Sie gab Stiller die Taschenlampe und breitete ein steriles Tuch auf dem Tisch aus.
»Legen Sie Ihre Hand da drauf«, forderte sie Beck auf.
»Wird es wehtun?«
»Bestimmt«, antwortete der Arzt. Er betrachtete im schwachen Schein der Lampe die Hand und verzog das Gesicht. »Ich muss die Wundränder ausschneiden, die Wunde säubern und zusammennähen.«
»Und was dann?«, wollte Beck wissen.
»Dann nehmen Sie Antibiotika und beten, dass Sie nicht noch bereuen müssen, mich hierzu überredet zu haben!«
Eva sprühte die Hand mit Desinfektionsmittel ein. Beck verzog das Gesicht, die Flüssigkeit brannte in der Wunde wie Feuer.
»Können Sie die nehmen?« Stiller hielt dem Polizisten die Taschen lampe hin. »Leuchten Sie genau in die Wunde und, wenn Ihnen Ihre Hand lieb ist, halten Sie still dabei.« Eva reichte ihm eine kleine Spritze.
»Was ist das?«
»Scandicain.«
Das war in Stillers Augen offensichtlich Erklärung genug, denn ohne weiter auf Becks Frage einzugehen, stach er fünfmal um die Wunde herum in Becks Hand und injizierte jeweils einige Tropfen des Betäubungsmittels unter die Haut. Nach einigen Minuten fühlte die sich pelzig an.
Mit sichtlichem Unmut säuberte Stiller Becks Wunde mit einem Tupfer, dann reichte Eva ihm ein Skalpell, mit dem er die zerrissenen Ränder begradigte.
»Passen Sie auf, wo Sie hinleuchten!«
»Kommen Sie«, Eva nahm Beck die Lampe aus der Hand. »Geben Sie die mir. Und schauen Sie lieber woanders hin.«
Joachim Beck schloss dankbar die Augen, während sich Stiller fluchend und schwitzend weiter an seiner Hand zu schaffen machte. Schließlich − er war mit sich offensichtlich einigermaßen zufrieden − nähte er die Wunde mit sieben Stichen und klebte einen breiten Pflasterstreifen auf sein Werk.
»Eva gibt Ihnen gleich ein paar Tabletten Antibiotika. Nehmen Sie die die nächsten zehn Tage. Die Fäden können raus, wenn die Tabletten alle sind.« Stiller stand auf. Er kramte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche.
»Könnte ich auch eine haben?«, fragte Beck.
Stiller nickte. »Kommen Sie mit.«
»Sie können ruhig hier rauchen.« Eva, die den Tisch abräumte, zuckte mit den Achseln. »Ich glaube kaum, dass die Rauchmelder noch funk tionieren. Und selbst wenn, wird niemand kommen.« Was sie sagte, klang traurig. Und endgültig. Als ob sich die Katastrophe dieses Tages auf das Funktionieren eines Rauchmelders reduzieren ließe. Und das Traurige dabei war, dass dies tatsächlich dem Istzustand entsprach.
Während sie rauchten, sprach keiner ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach und starrte in die Finsternis, die Taschenlampe hatten sie gelöscht. Beck grübelte über die Gefangenen im OP nach, während Stillers Gedanken bei seiner schwangeren Frau in Freiburg waren. Schließlich drückte Eva ihre Zigarette in einer Untertasse aus. Es war die erste Zigarette seit acht Jahren und sicher nicht das Beste für das Baby.
»Ich dachte vorhin wirklich, das war’s. Wenn Sie nicht gekommen wären …« In ihr lief erneut der Film von Ritter, Mehmet und Fuchs ab, in dem die drei in die Station eindrangen und sich dann um sie kümmerten. Kümmerten. Lag der Ursprung des Wortes in Kummer? Sie hatte Todesangst ausgestanden, als unter der Maschinengewehrsalve die obere Scheibe der Glastür zersplitterte. Was wäre gewesen, wenn Beck nicht erschienen wäre?
»Bis auf Glück sind wirklich alle Patienten tot?« Stiller blies Rauch über den Tisch. »Sind Sie sicher, dass kein anderer noch lebt?«
Eva schüttelte den Kopf. »Ganz sicher, Doktor. Aleksandr Glück ist unser einziger Patient, sieht man von unserem Retter hier einmal ab.«
»Und was machen wir jetzt?« Beck stellte die Frage, die allen dreien im Kopf herumschwirrte. Und die keiner als Erster aussprechen wollte. Weil keiner eine Antwort wusste. Weil keiner wusste, wie die Welt außerhalb der Station im Augenblick funktionierte, geschweige denn, wie sie
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