Raus aus der Suchtfalle!
dass sie eine »ganz andere Wahrnehmung« bekommen haben. Ihr Blick auf sich selbst und auf andere sei freier geworden. Die Sinneseindrücke seien viel kräftiger, viel echter und damit viel schöner. Die eigenen Gefühle würden wieder als viel echter wahrgenommen. Die guten wie auch die schlechten Gefühle. Also: Sowohl die nach außen gerichtete Wahrnehmung mit unseren »fünf Sinnen« wie auch die nach innen gerichtete Wahrnehmung mit unserem psychologischen Sensorium werden in der Zeit der Abstinenz geschärft. Für die meisten, die diese Erfahrung machen, ist diese geschärfte Wahrnehmung eine äußerst positive Erfahrung. Hilfreich ist es, wenn in dieser Phase der Alltag in seinen bedrohlichen Aspekten weiter weg ist, denn diese Phase geht einher mit einer gewissen Verletzlichkeit. Das ist auch der Hintergrund dafür, dass die erste Phase der Entwöhnungsbehandlungtraditionell in einer Entwöhnungsklinik stationär oder ganztägig ambulant stattfindet, die die Betroffenen zunächst auch etwas vom Alltag fernhält und somit einen »Schutz- und Entwicklungsraum« darstellt.
Bei Benzodiazepinabhängigkeit dauert der Entzug wesentlich länger
Die Entgiftungsphase dauert bei Benzodiazepinabhängigkeit häufig länger als bei Alkohol. Auch bei der Niedrig-Dosis-Abhängigkeit (oft auch als »low dose dependence« beschrieben) ist die Entgiftungsphase länger. Die Medikamente werden auch unter medizinischer Überwachung nicht sofort abgesetzt, sondern eher langsam über Wochen oder sogar Monate ausgeschlichen, sodass sich das Gehirn an die geringer werdende Hemmung der Nervenzellaktivitäten gewöhnen kann. Würden Benzodiazepine schlagartig abgesetzt werden, würde das an die Hemmung gewöhnte Gehirn stark erregt sein und im Extremfall sogar epileptische Anfälle erleiden. Weil die Entgiftung bei Benzodiazepinabhängigkeit länger dauert als bei Alkoholabhängigkeit, treten die hier beschriebenen Phänomene der »neuen Wahrnehmung« und der viel lebendigeren Sinneseindrücke nicht so schlagartig auf wie bei der ersten Phase der Alkoholabstinenz.
Info
Benzodiazepine werden stufenweise über Wochen bis Monate reduziert
Die stufenweise Absetzung von Benzodiazepinen erfolgt üblicherweise über Wochen oder sogar Monate hinweg. Die Dosisreduktion erfolgt so, dass die ersten 50 % der Benzodiazepindosis recht zügig, zum Beispiel innerhalb von zwei Wochen geschieht. Nachdem diese Dosis erreicht ist, kann eine Pause eingelegt werden, das heißt, diese Dosis wird einige Zeit, zum Beispiel einige Wochen, aufrechterhalten. Die nächsten 25 % der Dosis werden deutlich langsamer, zum Beispiel innerhalb der folgenden sechs Wochen reduziert. Die letzten 25 % werden dann ganz langsam abgesetzt, zum Beispiel über die folgenden drei Monate.
Für viele beginnt mit der Entwöhnung ein Wachstumsprozess
Ein klarer Blick auf die Umwelt, auf andere Menschen, auf sich selbst, auf die Zukunft bildet eine gute Ausgangslage für ein weitgehend selbstbestimmtes Leben.
In dieser ersten Phase der Alkoholabstinenz oder des kontrollierten reduzierten Benzodiazepinkonsums wachsen häufig das Selbstvertrauen und die »Selbstwirksamkeitserwartung«: Betroffene erfahren nach einer mehr oder weniger langen Zeit des Kontrollverlusts, wie sich ein Leben mit stärkerer Selbstbestimmung anfühlt, sie machen die Erfahrung, zunehmend wieder Einfluss auf ihr eigenes Befinden, auf den Umgang mit sich und den anderen zu haben.
Psychotherapie hat immer das Ziel, Wachstum und Reifung zu fördern. Sie will Menschen befähigen, in möglichst großer Selbstbestimmung mit den Herausforderungen umgehen zu können und weitestgehend auf Scheinlösungen zu verzichten. In diesem Sinne ist die Sucht als eine Scheinlösung zu betrachten: Das Suchtmittel verhindert, dass sich Betroffene mit anstehenden Lebens- und Entwicklungsaufgaben beschäftigen. Zum Wachsen und Reifen gehört allerdings, dass wir uns mit den jeweiligen Lebensaufgaben konstruktiv auseinandersetzen. Mit dieser anderen Wahrnehmung wächst für viele Betroffene auch der Wille, die eigene Zukunft zu planen, Ziele zu setzen.
Zunächst können sehr viele Auslöser zu Suchtdruck führen
In der ersten Phase der Abstinenz ist das Suchtgedächtnis noch besonders aktiv (siehe → S. 61 ff.). Es gab in dieser Phase ja noch nicht viel Zeit und Gelegenheit, neue Zusammenhänge zu lernen. In dieser Phase sind also die üblichen Merkmale der Konsumsituation noch besonders »gefährlich«, können besonders
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