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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Aber er fühlte sich wunderbar frisch. Unmenschliche Stärke durchströmte ihn, floss mit jedem Schlag seines grausamen Herzens in seine ebenmäßigen, kräftigen Glieder, die jetzt mit gallertartig geronnenem Blut besudelt waren. Dem Blut jener, deren Seelenkraft es war, die ihm seine nichtmenschliche Kraft verliehen.
    Erschöpfung vortäuschend, taumelte Prinz Montezuma vom Altar weg, quer durch die düstere, feuchtwarme Höhle aus gemauertem Stein auf der Spitze der großen Stufenpyramide. Unwillkürlich strichen seine Hände über seinen Leib. Nur gut, dass die klebrige Blutschicht verbarg, was die Augen der gewöhnlichen Sterblichen nicht sehen durften!
    Tag um Tag hatte er nach seiner Rückkehr vom Feldzug gegen die Huaxteken im Haus des großen Huitzilopochtli auf dem Schlangenberg verbracht, um seine Demut zu beweisen - dem Volk und dem neidischen König. Und dort hatte er sich, Höhepunkt der Unterwerfung, mit Kakteenblättern geißeln lassen, bis sein Fleisch in Fetzen von Brust und Rücken herabhing.
    Noch vor drei Tagen waren diese Wunden frisch und roh gewesen. Nun waren sie beinahe verschwunden - eine Heilung, die ans Wunderbare grenzte.
    Und auch die Wunden in den Lippen, die entstanden waren, als er sich den Mund mit Knochensplittern versiegelte, hatten sich geschlossen. Hier tat die verschmierte Schminke gute Dienste, das Wunder zu verbergen.
    Montezuma stolperte weiter, an schwankenden Priestern und Gehilfen vorbei, und schob sich durch eine schmale Öffnung in der steinernen Mauer. Er betrat einen winzigen Nebenraum. Sein aristokratisches Gesicht leuchtete auf, als er den goldenen Kasten erblickte, der hier während der ganzen drei Tage auf einem Obsidiantisch gestanden hatte.
    Er beugte sich nieder, presste die Lippen auf das Schloss des Kästchens und dachte seinen Dank. Du hast mir Stärke verliehen. Erhabener. Du hast meine Wunden geheilt. Mächtig bin ich unter Menschen und Göttern. Darum lobpreise ich dich.
    Ein Strom von Gedanken brach wie ein Orkan über ihn herein. ÖFFNE DEN KASTEN.
    Mit zitternden Fingern gehorchte Montezuma. Er löste die Verriegelung, klappte den Deckel zurück.
    Starrte in den Kasten.
    Darin lag ein Schädel.
    Leere Augenhöhlen blickten ihm entgegen, funkelten ihn wissend an. Wie unter einem inneren Zwang sank der aztekische Prinz auf die Knie und senkte den Blick.
    Der Geist, der in diesem Schädel wohnte, war größer als der Montezumas. In einem Winkel seines Bewusstseins ahnte der Prinz, dass er vor diesem Wesen nicht mehr war als die Gefangenen, die er in den letzten drei Tagen getötet hatte, vor ihm, Montezuma, dem zukünftigen König von Mexiko.
    SCHAU MICH AN.
    Ich kann es nicht, Erhabener. Meine Augen verbrennen.
    SCHAU MICH AN.
    Er zwang sich, den Kopf zu heben. Die unerschöpfliche Kraft, deren er sich eben noch vor sich selbst gebrüstet hatte, war aus ihm gewichen und hatte nur ein leeres Gefäß zurückgelassen. Einen schwachen, sterblichen Menschen, der nur für einen vergänglichen Augenblick teilgehabt hatte an der Macht des unsterblichen, unvergänglichen Geistes in seinem Gefängnis aus Kristall.
    Denn der Schädel, auf dem Prinz Montezumas flackernde Augen nun ruhten, war, wenngleich wie der eines Menschen geformt, nicht der eines Menschen. Er bestand nicht aus Bein, sondern aus Kristall.
    MEIN DIENER.
    Mit einem Ächzen stürzte der Fürst zu Boden, niedergemäht von der schieren Gewalt des seltsam spöttischen Gedankens. Dunkelheit legte sich um seinen zuckenden Geist, und die Welt zog sich von ihm zurück. Er meinte, in einen unendlich tiefen, pechschwarzen Brunnenschacht zu stürzen.
    TÖTEN, hallte ein neuerlicher Gedankenorkan durch sein Gehirn. TÖTEN. NOCH MEHR TOD. NOCH MEHR SEELEN. Und aus unendlich weiter Ferne wehte ein kaltes, gefühlloses Lachen heran, schwoll an und hüllte ihn in einen Schleier aus Eis.
    Das war das Letzte, was er wahrnahm, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.
    Nick Jerome hockte schläfrig auf einer Taurolle, kaute Tabak und summte ein Lied vor sich hin. Unter dem Rand seines breitkrempigen Strohhuts hervor beobachtete er seinen Partner Jeff Kurtz, der mit großer Sorgfalt die Taucherausrüstungen überprüfte. Jeffs Pedanterie war gegen unvorhergesehene Zwischenfälle die beste Versicherung, die man sich nur wünschen konnte. Und selbst bei Routineaufträgen in ruhigen Gewässern ließen sich solche Zwischenfälle nie ganz ausschließen.
    Die LAURA schaukelte sanft in der Dünung. Das Meer war hier

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