Raven - Schattenreiter (6 Romane)
schlanke junge Mann sie als einfache Sekretärin angestellt hatte, hatte sie solchen Worten noch Glauben geschenkt. Aber mittlerweile war sie seine Verlobte, und sie kannte das Geschäft, in dem sie beide arbeiteten, gut genug, um zu wissen, dass solche Träume immer Träume bleiben mussten. Privatdetektive verdienten nur im Film und in Romanen viel Geld, die Wirklichkeit sah anders aus. Dieser Wagen und das Büro mit der angrenzenden Wohnung waren alles, was sie besaßen - und es gab keinen Grund anzunehmen, dass es jemals mehr werden würde. Manchmal hatte Janice sogar den Verdacht, dass er sich nur mit ihr verlobt hatte, um ihr kein Gehalt mehr bezahlen zu müssen.
Sie lehnte sich zurück und schaltete das Autoradio ein. »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Wenn es eine krumme Tour ist, lass die Finger davon!«
Raven nickte, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und ging quer über den gepflegten Rasen auf das Haus zu.
Es war ein massiges, sechsstöckiges Gebäude im Stil des ausklingenden neunzehnten Jahrhunderts: Schwere Säulen flankierten den Eingang, die Fenster im Erdgeschoss waren hoch und schmal und vergittert und erinnerten an Schießscharten. Auf der Messingtafel neben der Tür standen zwei Dutzend Namen, aber es gab nur einen Klingelknopf. Direkt über dem Schild lugte das misstrauische Auge einer Videokamera aus der Wand.
Raven schenkte der Kamera ein halbherziges Lächeln und drückte den Klingelknopf. Für zwei, drei Sekunden geschah nichts, dann hörte er ein leises Summen, und die Tür schwang wie von Geisterhand geöffnet auf.
Dahinter lag eine weitläufige, nur schwach erleuchtete Halle. Kostbare Teppiche und Schalen mit exotischen Blumen bedeckten den Boden, und direkt neben der Tür war etwas, das Raven an eine Mischung aus Portiersloge und Computerzentrum erinnerte. Bilder des Hauses und seiner unmittelbaren Umgebung flimmerten über ein halbes Dutzend Monitore, und auf der Schalttafel darunter leuchtete ein halbes Dutzend kleiner grüner Lampen.
Hinter der Theke saß ein grauhaariger älterer Mann in einer blauen Fantasieuniform.
»Sie wünschen?«, fragte er.
Raven räusperte sich verlegen. »Ich - äh ... hier wohnt doch ein gewisser Mr. Pendrose, oder?«
Der Wachmann nickte knapp. »Ja.«
»Ich war mit ihm verabredet«, fuhr Raven fort. »Kann ich hinaufgehen?«
»Ihr Name?« Die Finger des Mannes flogen routiniert über eine kleine Schalttafel.
»Raven.«
»Raven, so ...« Er griff nach einem Telefonhörer, lauschte einen Moment lang und räusperte sich dann. »Mr. Pendrose, hier unten ist jemand, der angeblich mit Ihnen verabredet ist. Ein Mr. Raven. Geht das in Ordnung?« Wieder lauschte er ein, zwei Sekunden lang, ohne Raven dabei aus den Augen zu lassen, dann nickte er und legte den Hörer zurück auf die Gabel. »Okay. Sie können hochgehen. Vierte Etage. Steven wird Sie begleiten.« Er drückte einen weiteren Knopf auf seiner Schalttafel, und aus einer versteckten Nische neben dem Aufzug trat ein weiterer Uniformierter.
Sie fuhren mit dem Lift nach oben. Raven fühlte sich in Gesellschaft des Uniformierten nicht gerade wohl. Der Mann war einen guten Kopf größer als er, und seine Fäuste sahen aus, als könnte er damit Kokosnüsse zerdrücken. In seinem Gürtelholster steckte eine großkalibrige Waffe.
Als der Lift in der vierten Etage anhielt, flammte automatisch die Flurbeleuchtung auf. Der Wächter trat aus dem Lift, ging mit schnellen Schritten über den Gang und hielt vor der letzten Tür an.
Raven folgte ihm langsamer. Selbst hier oben glich das Haus einer Festung. Es gab weder Türnummern noch Namensschilder, und ein System von Videokameras sorgte dafür, dass jeder Zentimeter des Flures überwacht werden konnte.
Das war wirklich eine Festung, dachte Raven.
Oder ein Gefängnis.
Der Wächter drückte auf die Klingel, und die Tür wurde unnötig heftig aufgerissen. Ein verschwitztes, von dunklen, wirr abstehenden Haaren eingerahmtes Gesicht erschien in der Tür.
»Ja?«
»Ihr Besuch.«
Der Mann trat beiseite, um Raven vorbeizulassen. Die Tür wurde hinter ihm genauso heftig wieder ins Schloss geworfen, und Raven hörte das Geräusch von drei oder vier Schlüsseln und einer zusätzlichen Kette.
»Sie sind Mr. Raven?«, fragte Pendrose. Seine Stimme klang gehetzt, und in seinen Augen stand ein irres, schwer einzuordnendes Flackern.
Raven nickte. »Ja. Sie hatten mich bestellt ...«
Pendrose nickte, ging mit kleinen, hektischen Schritten an Raven
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