Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
1. Der erste Irrtum
Anfang April des Jahres 1813 verhieß ein Sonntagmorgen den Parisern einen jener schönen Tage, an welchen sie zum erstenmal im Jahr ihr Pflaster frei von Schmutz und den Himmel wolkenlos sehen. Kurz vor Mittag bog ein mit zwei feurigen Pferden bespanntes prächtiges Kabriolett aus der Rue de Castiglione in die Rue de Rivoli ein und machte hinter einer Reihe von Equipagen halt, die vor dem kürzlich neueröffneten Gitter mitten auf der Terrasse des Feuillants standen. Der zierliche Wagen wurde von einem kränklich und vergrämt aussehenden Mann gelenkt, dessen ergrauendes Haar nur spärlich den gelblichen Schädel bedeckte und ihn vor der Zeit gealtert erscheinen ließ. Er warf die Zügel dem Lakaien zu, der dem Wagen zu Pferde gefolgt war, und stieg ab, um ein junges Mädchen herunterzuheben, dessen liebliche Schönheit die Aufmerksamkeit der müßigen Spaziergänger auf der Terrasse erregte. Wie sie oben am Kutschrand stand, ließ sich die Kleine willig um die Taille fassen und umschlang den Hals ihres Führers, der sie auf das Trottoir hob, ohne den Besatz ihres grünen Ripskleides gedrückt zu haben. Ein Liebhaber hätte nicht sorgsamer sein können. Der Unbekannte mußte der Vater des Mädchens sein, das, ohne ihm zu danken, vertraulich seinen Arm nahm und ihn ungestüm in den Garten zog. Der alte Vater bemerkte die verwunderten Blicke einiger junger Leute, und für einen Augenblick verflog die Trauer, die auf seinem Gesicht eingegraben war. Obwohl er längst das Alter erreicht hatte, wo sich die Männer mit den trügerischen Freuden der Eitelkeit bescheiden müssen, lächelte er. »Man hält dich für meine Frau«, sagte er dem jungen Mädchen ins Ohr, wobei er sich straffte und mit einer Langsamkeit dahinschritt, die die Kleine zur Verzweiflung brachte.
Er schien für seine Tochter kokett zu sein und genoß wohl mehr als sie die bewundernden Blicke, welche die Gaffer auf die kleinen Füße richteten, die in Schnürstiefeln aus flohbraunem Prünell stockten, auf die zierliche Taille, die sich unter dem schmalen Kleid abzeichnete, auf den frischen Hals, den ein gestickter Kragen leicht verhüllte. Bisweilen hob sich das Kleid des jungen Mädchens beim Gehen und zeigte oberhalb der Stiefelchen durch die durchbrochenen seidenen Strümpfe hindurch die Rundung eines feingeformten Beines. So überholte auch manch ein Spaziergänger das Paar, um das junge, von braunen Löckchen umspielte Gesicht noch einmal zu betrachten und zu bewundern, dessen weißer, rosig überhauchter Ton ebenso von dem Widerschein des rosafarbenen Atlasfutters eines eleganten Hutes wie von der aus allen Zügen der hübschen Kleinen leuchtenden Sehnsucht und Ungeduld vertieft wurde. Eine leise Schelmerei belebte die schönen, mandelförmig geschnittenen schwarzen Augen, die, unter sanft gewölbten Brauen von langen Wimpern beschattet, in einem feuchten Glanz schimmerten. Lebenslust und Jugendfrische hatten ihr Füllhorn über das mutwillige Gesicht ergossen und über eine Büste, die trotz des nach der damaligen Mode unterhalb des Busens angebrachten Gürtels doch von zierlicher Anmut war. Der Huldigungen nicht achtend, blickte das junge Mädchen mit einer gewissen Unruhe auf das Schloß der Tuilerien, das offenbar das Ziel ihres hastigen Spazierganges war. Es war Viertel vor zwölf. Trotz der frühen Stunde kamen schon einige Frauen, die sich in vollem Staat hatten zeigen wollen, vom Schloß und wandten den Kopf noch einmal mißmutig zurück, um ihr Bedauern auszudrücken, daß sie zu einem ersehnten Schauspiel zu spät gekommen waren. Ein paar unwillige Worte, die der Enttäuschung der schönen Spaziergängerinnen entsprangen, waren von der hübschen Unbekannten im Vorbeigehen aufgefangen worden und hatten sie seltsam beunruhigt. Der alte Herr erspähte eher neugierig als spöttisch die Zeichen der Ungeduld und Furcht auf dem entzückenden Gesicht seiner Begleiterin, und er beobachtete sie wohl allzu genau, als daß der Hintergedanke des Vaters sich hätte verkennen lassen. – Dieser Sonntag war der dreizehnte des Jahres 1813. Zwei Tage später brach Napoleon zu jenem verhängnisvollen Feldzug auf, in dem er nacheinander Bessières und Duroc verlieren, die denkwürdigen Schlachten von Lützen und Bautzen gewinnen, sich von Österreich, Sachsen, Bayern und von Bernadotte verraten sehen und die schreckliche Schlacht von Leipzig ausfechten sollte. Die prachtvolle Parade, die der Kaiser selbst kommandierte, war die letzte
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