Rebecca
waren gar nicht unhöflich», sagte ich, «oder wenigstens war es keine Unhöflichkeit, die sie verstanden hätte. Diese Neugier – sie meint gar nichts Böses damit, aber sie ist zu jedem so. Das heißt, zu jedem, der etwas darstellt.»
«Ich müßte mich also eigentlich sehr geschmeichelt fühlen», meinte er. «Aber aus welchem Grund glaubt sie, daß ich etwas darstelle?»
Ich zögerte einen Augenblick mit meiner Antwort.
«Wegen Manderley, glaube ich», sagte ich dann.
Er antwortete nicht, und ich empfand wieder jenes ungemütliche Gefühl, einen verbotenen Weg betreten zu haben. Ich überlegte, wie es wohl komme, daß jede Erwähnung seines Besitztums, das so viele Leute, sogar ich, dem Hörensagen nach kannten, ihn sofort zum Schweigen brachte und gleichsam eine Mauer zwischen ihm und anderen Menschen
aufrichtete.
Wir aßen eine Weile, ohne zu sprechen, und ich erinnerte mich an eine Ansichtskarte, die ich einmal als Kind während eines Ferienaufenthaltes in Westengland beim Dorfkrämer gekauft hatte. Sie zeigte das Bild eines Hauses, natürlich nicht sehr künstlerisch und übertrieben bunt, aber selbst diese Mängel vermochten nicht, das Ebenmaß des Gebäudes zu zerstören, noch die Schönheit der breiten Freitreppe zu der Terrasse und der grünen Rasenflächen, die sich bis zum Meer hinstreckten. Ich zahlte zwei Pennies für die bunte Karte – die Hälfte meines wöchentlichen Taschengeldes – und fragte dann die runzlige Krämers-frau, was das Bild darstelle. Sie sah mich erstaunt über meine Unwissenheit an.
«Das ist Manderley», sagte sie, und ich weiß noch, wie ich den Laden verließ mit dem Gefühl, etwas Dummes gefragt zu haben, aber ohne klüger geworden zu sein als zuvor.
«Ihre Freundin –» fing er plötzlich wieder an, «ist doch sehr viel älter als Sie. Sind Sie miteinander verwandt? Kennen Sie sie schon sehr lange?» Offensichtlich zerbrach er sich noch den Kopf über uns.
«Eine Freundin ist sie eigentlich nicht», erklärte ich ihm, «ich bin nur ihre Angestellte. Ich soll unter ihrer Anleitung etwas werden, was man Gesellschafterin nennt; dafür zahlt sie mir neunzig Pfund im Jahr.»
«Ich wußte nicht, daß man sich Gesellschaft kaufen kann», sagte er. «Die Idee klingt mir recht primitiv, so nach orientalischem Sklavenmarkt.»
«Ich habe einmal nachgesehen, was im Konversationslexikon unter ‹Gesellschafterin› steht», mußte ich zugeben, «und da stand: ‹eine Gesellschafterin ist eine Vertraute des Herzens›.»
«Sie haben nicht viel mit ihr gemeinsam», sagte er. Er lachte und sah plötzlich ganz anders aus, irgendwie jünger und weniger unnahbar. «Warum tun Sie das bloß?» fragte er mich.
«Neunzig Pfund sind eine Menge Geld für mich.»
«Haben Sie denn keine Verwandten?»
«Nein – sie sind alle gestorben.»
«Sie haben einen wunderschönen und sehr ungewöhnlichen Namen.»
«Mein Vater war ein wundervoller und sehr ungewöhnlicher Mensch.»
«Erzählen Sie mir von ihm.»
Ich blickte ihn über mein Glas Zitronenlimonade hinweg an. Es war nicht leicht, meinen Vater zu schildern, und im allgemeinen sprach ich nicht über ihn. Er war mein geheimer Besitz, er gehörte mir allein, so wie Manderley meinem Gegenüber gehörte. Da saß ich, so sehr noch das Schulmädchen, das noch am Tag zuvor steif, schweigend und verschüchtert neben Mrs. Van Hopper gesessen hatte, und jetzt, nur vierundzwanzig Stunden später, gehörte mir das Geheimnis meiner Familie nicht mehr; ich teilte es mit einem Mann, den ich nicht kannte. Irgendwie fühlte ich mich gezwungen, zu reden, weil seine Augen mich voller Verständnis ansahen. Meine Scheu fiel von mir ab und löste mir dabei die widerstrebende Zunge, und heraus stürzten sie alle, die kleinen Geheimnisse der Kindheit, ihre Freuden und Leiden. Ich hatte das Empfinden, als erfasse er nach meiner unzureichenden Schilderung etwas von der vitalen Persönlichkeit meines Vaters und auch etwas von dem Wesen meiner Mutter, deren Liebe zu ihm sie wie ei-ne lebendige, lebenspendende Kraft erfüllte, so sehr, daß sie sich nur noch fünf Wochen hinschleppte und ihm dann folgte, nachdem er in jenem eisigen Winter von einer Lungenentzündung dahingerafft worden war. Ich entsinne mich, daß ich ein wenig atemlos, ein wenig verwirrt inne-hielt. Der Speisesaal war allmählich voll geworden; die Gäste unterhielten sich und lachten, ein diskretes Orchester spielte, Teller klapperten, und als ich auf die Uhr über der Tür blickte, sah
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