Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
denkt daran, wie Tore sich mit geübter Geste vorgebeugt und ihre Taschen durchwühlt hat, als sie auf der Toilette war.
Kerttu hat kein Wort gesagt. Isak lag in der Kammer im Bett und rang um Atem.
Tore fischte das Telefon aus der Jackentasche, steckte es ein und befahl Hjalmar nach draußen, um sich um ihren Wagen zu kümmern.
»Jetzt wird sie wohl nicht mehr in dieser Scheißgeschichte rumwühlen«, sagte Tore, als sie in die Stadt fuhren und dabei an der Polizistin vorbeikamen, die auf dem Weg zu Anni war.
Und die SMS , die sie der Tochter der Polizistin geschickt hatten. Es war leicht gewesen, herauszufinden, wie die Kleine hieß, und sie dann anzusimsen.
Sie haben meinen Leichnam gefunden. Endlich passiert jetzt etwas. Tore ist aufgekratzt, auch wenn er versucht, das zu verbergen. Hjalmar gegenüber tut er so, als sei das hier etwas, das ebenso erledigt werden müsse wie jede andere Aktivität in ihrem Beruf.
Ich kann sehen, dass Hjalmar daran denkt. Dass Tore aus solchen Erlebnissen immer Kraft holt. Nicht so sehr aus der Gewalt wie aus der Bedrohung. Er holt sich Energie aus Angst und Wehrlosigkeit der anderen. Das erfüllt ihn dann immer mit Arbeitsfreude und Kraft. Dann kommt es vor, dass er die Fahrerkabinen der Lastwagen mit Cockpit-shine wienert oder das Papier in den Fahrtenschreibern auswechselt. Bei Hjalmar ist eher das Gegenteil der Fall. So war es bisher jedenfalls. Mit Drohungen hat er sich niemals ausgekannt, dafür war immer Tore zuständig. Aber mit Gewalt. Vorausgesetzt, dass der Gegner etwas taugt oder, noch besser, ihm überlegen ist.
Das Gefühl, sich in die Schlacht zu begeben, vielleicht drei Widersachern gegenüberzutreten. Danach die blutrote Säule aus Wut. Von jeglichem Gedanken befreit zu sein, von jeglichem Gefühl, außer dem Willen zu siegen, der Lust am Bezwingen. Ich war auch eine Schlägerin, ehe ich nach Piilijärvi gezogen bin und Simon kennengelernt habe. Ich weiß, wie schön so ein Kampf sein kann.
Aber Hjalmar hatte nur so gekämpft, als er noch jung war. Sein ganzes Erwachsenenleben hindurch war es anders gewesen.
Jetzt seufzt er tief, wie er das nur macht, wenn er allein ist. Er erhebt sich.
Nein, heutzutage wird er mit mechanischer Teilnahmslosigkeit gewalttätig. Schleudert ein armes Würstchen durch die Gegend, das bezahlen, das seinen Konkurrenzbetrieb einstellen oder das die Erlaubnis erteilen soll, eine Schmiergrube anzulegen, oder was auch immer. Oft ist nicht einmal so viel nötig. Der Ruf der Brüder hat sich bis weit über die Ortsgrenzen hinaus verbreitet. Die meisten tun, wie ihnen geheißen. Aber Polizeiinspektorin Anna-Maria Mella hat sich keine Angst einjagen lassen.
Jetzt geht er hinaus auf die Vortreppe. Es ist Samstagabend. Noch immer ist es draußen hell. Er schaut zu Tores Haus hinüber, Tore und dessen Frau sitzen sicher vor dem Fernseher. Er wüsste gern, ob Tore die Nachrichten gesehen hat. Und Kerttu hat sicher Isak geholfen, sich auf der Bettkante aufzusetzen, hat den Rolltisch hervorgezogen und füttert ihn mit Hagebuttensuppe und eingeweichten Zwiebäcken.
Er sehnt sich in den Wald. Ich kann es ihm ansehen. Wie er wie ein Kettenhund die Witterung der Fichten an der Grundstücksgrenze aufnimmt. Er hat eine Hütte in Saarisuanto am Kalixälv. Das weiß ich. Sicher denkt er jetzt daran.
Dort ist die Einsamkeit erträglich. Er möchte vor allen Menschen fliehen. Ich wüsste gern, ob er immer schon so war. Oder ob es an dem Geschehnis gelegen hat.
Es gibt hier in diesem Ort ein Geschehnis. Eine Geschichte, die man sich hinter dem Rücken der Brüder erzählt.
ES IST DER frühe Morgen des 17. Juni 1956. Hjalmar soll die Kühe auf die Sommerweide treiben. Das gehört zu seinen Aufgaben während der Sommerferien. Die Höfe im Ort sind eingezäunt, und die Kühe sollen tagsüber im Wald grasen. Abends kommen sie dann fast immer von selbst nach Hause, mit strotzenden Eutern, sie wollen gemolken werden. Aber es kommt auch vor, dass er sie holen muss. Vor allem gegen Ende des Sommers ist es schwer, sie nach Hause zu bringen. Wenn sie im Wald Pilze fressen. Dann kann man sie stundenlang suchen. Wenn sie von den Pilzen berauscht sind.
In der Küche packt die Mutter Brote in seinen und Tores Rucksack.
»Muss Tore mitkommen?«, fragt Hjalmar und knöpft die einzigen drei Knöpfe zu, die noch an seinem Flanellhemd sitzen. »Kann er nicht hier bei dir bleiben?«
Er ist acht Jahre alt, im Juli wird er neun. Tore ist sechs. Hjalmar würde lieber
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