Rebellen: Roman (German Edition)
Ditzinger. Die Mutter brachte Strenge in die Familie. Sie kannte die Regeln.
Das gehört sich nicht.
Es gab ein Du solltest dich was schämen für eine Bemerkung, die ihr nicht gefiel. Oder zum Vater gewandt, aber Alexander und Maximilian meinend: Das darf man erst gar nicht einreißen lassen. Die beiden Kinder waren froh, wenn Dienstag war und der Vater mit seiner ausgleichenden Milde wieder am Tisch saß.
Nach dem Essen, wenn der Vater wieder in dem Mercedes auf dem Weg zurück in die Firma saß, beaufsichtigte dieMutter die Hausaufgaben ihrer Söhne. Maximilian war gut in Mathe und Geometrie – und eine Flasche in Sprache und Deutsch. Und in jedem Fach, das mehr als Auswendiglernen verlangte. Die Mutter wurde oft ungeduldig, wenn er etwas nicht begriff, und Alexander, obzwar eine Klasse unter ihm, gönnte sich hin und wieder das Vergnügen, ihm die Antwort laut vorzusagen. Die Mutter lächelte dann, Maximilian verzog das Gesicht, als wäre er geschlagen worden. Alexander fiel die Schule leicht. Er lernte viel, aber es sah so aus, als fiele ihm alles von alleine zu. Er war der Einser-Schüler, Klassenbester, ohne Streber zu sein.
Die Mutter, das begriff Alexander ziemlich früh, sah in seinem älteren Bruder das Abbild des Vaters, des Mannes, den sie geheiratet hatte, und in ihm selbst sah sie den Mann, den sie eigentlich hätte heiraten sollen.
Doch streng war sie zu beiden. Erst wenn jede Vokabel gekonnt, wenn die letzte Rechenaufgabe gelöst und der Aufsatz oder die Erörterung geschrieben war, durften sie nach draußen in die Freiheit. Bei Maximilian ließ sie eine Drei in Deutsch durchgehen, bei ihm war eine Zwei ein Drama und bedeutete längeres Büffeln mit ihr und viele Lord Extra. Wollte er ungestört sein, musste er der Beste in der Klasse bleiben. Das war der Preis für die Freiheit.
So war es, als er Paul zum ersten Mal sah. Ihm war, als zeigte dieser Junge ihm genau das, was er unbewusst schon seit Langem suchte: einen Ausweg.
9. Paul
Paul sprang.
Seine Arme streckten sich. Alles geschah nun ganz langsam wie im Kino. Die beiden Fäuste öffneten sich, die Finger machten sich lang. Aber sie streiften das Fallrohr nur und konnten es nicht fassen.
Ich sterbe. Schade. Ich weiß noch gar nicht, wie das mit den Mädchen ist. Mami wird traurig sein.
Er sah sie an seinem Grab stehen in dem schwarzen Kostüm, das sie auch bei Vatis Beerdigung getragen hatte. Es wird ihr leidtun, dass sie mich hierhergebracht hat.
Aber der Moppel hat mich nicht gekriegt. Der Moppel nicht.
Er stürzte an dem Fallrohr entlang dem Boden zu.
Eine feuerverzinkte Schelle mit zwei abstehenden Schrauben riss Hemd und Pullover auf und zog eine blutige Spur über seine Brust. Mit beiden Händen griff er zu, bekam das Rohr zu fassen, rutschte ab und fiel weiter nach unten.
Jetzt setzten seine Instinkte ein.
Die nächste Halterung riss seine Handballen auf, aber er spürte es nicht. Dann die nächste: Er konnte sich festhalten. Er stützte sich mit den Füßen am Rohr ab. Langsam, mit Händen und Füßen bremsend, glitt er am Fallrohr zum Boden hinab. Oben im erleuchteten Toilettenfenster sah er Moppels Gesicht, aber er hörte die Flüche nicht mehr, die der ihm nachrief.
Paul marschierte die Gluckstraße entlang, dann nach rechts in die Haydnstraße. Noch immer spürte er den Schmerz nicht. Der bewachsene Zaun zur Heimwiese war auf dieser Seite zwei Meter hoch, aber Paul kannte die Stelle, an der er hindurchschlüpfen konnte.
Kurz danach lehnte er an dem alten Apfelbaum. In der Tasche seiner braunen Jacke fand er eine angebrochene Schachtel Chesterfield und ein Päckchen Streichhölzer. Er steckte sich eine Zigarette an und rauchte in der hohlen Hand, damit man die Glut drüben vom Waisenhaus aus nicht sehen konnte.
Er war Moppel entkommen. Diesmal. Aber es gab keine Hoffnung. Paul trat die abgerauchte Kippe aus. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und schwor zum zweiten Mal in seinem Leben: Moppel wird mich nie wieder quälen. Nie wieder. Keiner wird mich jemals wieder quälen.
Er ging fünf Schritte parallel zur Straße in die Wiese und blieb stehen. Dann ging er fünf Schritte nach links, bückte sich und grub die Pistole aus. Er steckte sie unter den Gürtel und richtete sich auf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich ein Schatten hinter dem Fenster auf der anderen Seite der Heimwiese schnell zur Seite drehte, sodass er ihn nicht mehr sehen konnte.
10. Alexander heute
Alexander trommelte mit beiden
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