Rebellen: Roman (German Edition)
schwankenden Schiff oder unsicherem Grund. Sie hatten auch eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit, das schmale Gesicht, braune Augen, die weder Toni noch er hatten, aber auch die gleiche Sturheit, die ihn manchmal in den Wahnsinn trieb. Aber die war in diesem Alter wohl normal.
Da endlich ging die Tür auf, und Toni kam strahlend auf ihn zu. Die Dämonen flüchteten.
11. Paul
Es waren Jahre der Angst. Angst vor Moppel. Angst vor dem Krieg.
Fräulein Wackenhut kam spätabends in den Schlafsaal, als einige Kinder schon schliefen. »Lasst uns beten«, sagte sie, und ihre Stimme war brüchig, wie er das an ihr noch nie gehört hatte. »Die Russen ziehen ihre Raketen nicht aus Kuba ab. Es gibt Krieg.«
»Lasst uns beten«, sagte sie. »Präsident Kennedy wurde erschossen. Es gibt Krieg.«
Jeder lag allein in seinem Bett und zitterte. Vierzehn Jungs. Die Kleinen mehr als die Großen, die machten Witze, über die niemand lachte, nicht einmal die Kleinen. Paul zog die Decke über den Kopf.
Aber irgendwann vergaßen sie diesen Krieg, der nie kam. Die Angst suchte sich andere Nahrung.
Die Mutter beschwerte sich in einem langen Brief, dass ein Kommunist und Anarchist namens Wolfgang Neuss drei Folgen vor Schluss der Fernsehserie »Das Halstuch« von einem Francis Durbridge in einer Zeitungsanzeige den Mörder verraten habe. »Stell Dir vor«, schrieb sie. »Wir sitzen alle aus der unteren Bahnhofstraße bei Frau Laub im Wohnzimmer und gucken den Film. Sie ist ja die Einzige, die einen Fernseher hat. Vielleicht kaufen sich Grubers aber auch einen. Jedenfalls sind alle da, sogar der Herr Stein mit seinem Gehstock. Man sieht keinen Menschen mehr auf der Straße. Und dann verraten die Kommunisten den Mörder. Nimm Dich nur vor denen in Acht. Vielleicht gibt es in Freiburg auch welche.«
Kommunisten kannte er keine, aber fernsehen durften sie hin und wieder. Es gab sogar einen Fernsehraum, zwei, genau genommen, einen für die Jungs, einen für die Mädchen.
Am besten waren die nächtlichen Boxkämpfe. Sonny Liston gegen Cassius Clay. Schlaftrunken torkelten sie nachts um vier Uhr hinunter in den Fernsehraum. Alle waren für Liston. Er hatte das Boxen im Gefängnis gelernt. Immer mit der nackten Faust gegen die Zellenwand. Stundenlang. Sonny Liston kam von unten. Er war einer von ihnen.
Seine Lebensgeschichte wurde gehandelt wie ein Insidertipp. Werner erzählte, Sonnys Geburtsjahr sei unbekannt. Seine Mutter gab als mögliche Geburtsjahre 1929, 1930 sowie 1932 an, Liston selbst erklärte, er sei 1928, 1932 oder 1933 geboren. Auch der Tag seiner Geburt war nicht klar. Seine Mutter sagte: Ich weiß, dass er im Januar geboren wurde, denn es war kalt wie im Januar.
Cassius, das chancenlose Großmaul! So einen Aufschneider würde Sonny in der ersten Runde fertigmachen. So wie er Floyd Patterson fertiggemacht hatte. Doch als sie vorm Fernseher saßen, verlief der Kampf anders, als sie es erwartet hatten. Das Großmaul tänzelte elegant durch den Ring. Gab die Deckung auf, ließ die Arme herunterhängen. Sonny lief schwerfällig hinterher, drosch los, aber das Großmaul war schon woanders. In der sechsten Runde gab Liston auf, und alle gingen überrascht zurück in die Betten.
Liston, das wurde Paul noch in der gleichen Nacht klar, kämpfte wie Moppel. Hart und brutal. Drosch einfach drauf. Aber da war plötzlich einer, der schlug ihn mit Intelligenz und Schnelligkeit. Paul wechselte die Seite.
Cassius war der Held der neuen Zeit. Er gab der Chance,einen Schläger zu schlagen, ein Gesicht. Irgendetwas wurde anders. Irgendetwas lag in der Luft.
Eines Morgens stand Paul mit Werner im Waschraum vor dem Spiegel. Das dauerte gewöhnlich. Mit Zuckerwasser oder mit Brisk, wenn Werners Mutter ein Päckchen geschickt hatte, kämmten sich die Jungs die Haare zurück, um sie dann geschlossen wieder nach vorne zu schieben, sodass der typische »Entenschwanz« entstand, eine Tolle, der Werner mit einer kurzen Bewegung mit dem Kamm noch einen Knick verpasste.
Fräulein Wackenhut mochte diese Frisuren nicht. »Man kann euch gar nicht mehr in die Augen gucken«, sagte sie.
»Prima«, sagte Werner.
Aber an diesem Morgen hatte er keine richtige Lust, sich die Elvis-Tolle zu verpassen. »Hast du von den Pilzköpfen gehört?«, fragte er Paul.
»Ja«, sagte Paul, obwohl es nicht stimmte.
»Die tragen die Haare lang. Ins Gesicht. Über die Ohren.«
Es leuchtete unmittelbar ein, dass das besser war als die Elvis-Frisur. Man musste nicht
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