Rechtsdruck
Arbeit. Aber ich will sie nicht für immer
machen.«
Seine Mutter stöhnte auf. »Bitte, Kemal, bereite mir nicht schon wieder
Sorgen. Ich würde mich so freuen, wenn du es mal in einer Firma länger als ein paar
Monate aushalten würdest.«
»Ich bin Schneider, Mama, und ein guter dazu, das weißt du. Also will
ich als Schneider arbeiten.« Kemal hatte seit frühester Jugend bei seinem Vater
im Betrieb geholfen und nach Abschluss der Hauptschule dort eine Ausbildung absolviert.
Nach vier Jahren als Geselle hatte er als Abendschüler mit großem Erfolg seine Meisterprüfung
abgelegt.
Mit den Jahren allerdings, befördert von den zunehmend radikaler werdenden
Ansichten seines Vaters, hatten sich die beiden auseinandergelebt. Und nach dem
Eklat des Sommers 2005 und dem Hinauswurf aus der elterlichen Wohnung war Kemal
Bilgin nur noch sehr selten bei seiner Mutter zu Besuch gewesen. Sein Vater bedachte
ihn mit geringschätzigen Blicken, wenn er ihn sah, verweigerte ihm den Handschlag
und verurteilte ihn ohne Aussicht auf Begnadigung für seinen an die westliche Gesellschaft
angepassten Lebensstil. Und doch war immer zu spüren, dass Gökhan Bilgin darunter
litt, dass sein Sohn nicht seinen hochgesteckten Erwartungen, speziell den religiösen,
entsprechen wollte.
»Du hast, seit du bei uns weggegangen bist, so viele Arbeiten angenommen
und wieder aufgegeben, Kemal. Bleib doch einmal dabei, wenn es eine gute Arbeit
ist.«
Die Küchentür wurde aufgeschoben und Gökhan Bilgin kam herein. Ohne
seinen Erstgeborenen eines Blickes zu würdigen, griff er zu einem Teeglas und füllte
es auf.
»Hallo, Papa«, begrüßte ihn Kemal.
»Was willst du? Ist dein Kühlschrank mal wieder so leer, dass sich
die Mäuse Blutblasen laufen?«
»Hör auf. Ich bin hier, und ich will freundlich zu dir sein. Also lass
bitte diesen Unsinn.«
Der alte Bilgin sah an seinem Sohn herab und schüttelte den Kopf. »Wie
du herumläufst. Als ob Löcher in den Hosen etwas wären, worauf man sich etwas einbilden
kann.«
»Das ist modern, Papa. Das tragen wir jungen Leute heute nun mal.«
Kemal trat auf seinen Vater zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Noch mal: Hallo,
Papa.«
»Du verlangst zu viel von mir, Junge. Das geht nicht so einfach, wie
du dir das vorstellst.«
»Doch, Papa. Du musst nur einschlagen«, erwiderte Kemal selbstbewusst.
Sein Vater schüttelte erneut den Kopf. »Was willst du«, fragte er stattdessen.
»Ich will mich selbstständig machen«, erwiderte der Sohn nach einer
kurzen Pause.
Gökhan Bilgin lachte laut auf. »Was soll das jetzt wieder? Reichen
dir die Schulden nicht, die du schon gemacht hast?«
»Ich will mich als Schneider selbstständig machen. Und ich will, dass
du mir dabei hilfst.«
Gökhan Bilgin sah seine Frau an, danach wieder seinen erwachsenen Sohn,
und wieder seine Frau.
»Jetzt ist er wirklich übergeschnappt«, erklärte der alte Schneider
ihr mit ärgerlichem Gesichtsausdruck.
»Ich bin nicht übergeschnappt, Papa. Ich will nur …«
»Du willst, du willst! Was willst du von mir?«, brüllte Bilgin nun
schlagartig los. »Was will ein Mensch von mir, der so lebt wie du? In solcher Schande!«
»Gökhan!«, rief nun Demet Bilgin. »Versündige dich nicht!«
Bilgin drehte sich um und sah seine Frau durchdringend an. »Halt du
noch zu ihm«, schnaubte der Schneider.
»Mama hält weder zu mir noch zu dir«, nahm Kemal seine Mutter in Schutz.
»Und dich sollte ich vielleicht einmal daran erinnern, dass du nicht immer der gute
Moslem gewesen bist, den du uns heute verkaufen willst«, schleuderte er seinem Vater
entgegen. »Dass du früher einer guten Schweinewurst und einem großen Schnitzel nicht
aus dem Weg gegangen bist und um die Moschee einen großen Bogen gemacht hast, das
ist die Wahrheit, auch wenn sie dir heute nicht mehr schmeckt. Und dass du mich
schon als Kind in deiner Werkstatt ausgebeutet hast, das ist auch wahr. Ich habe
immer nach der Schule arbeiten müssen, während meine Freunde sich auf dem Spielplatz
oder dem Fußballplatz ausgetobt haben. Und in den Ferien habe ich von morgens bis
abends für dich geschuftet, während du dir die Falten aus dem Sack gehauen hast.«
Die Stimme des jungen Türken überschlug sich nun. »Denn der Fleißigste warst du
noch nie, auch nicht in der Zeit vor deiner Entdeckung des Islam als Pflaster für
alle Wunden und Errettung der Welt von allem Bösen.«
»Kemal!«, wurde nun er von seiner Mutter zur Ordnung gerufen, achtete
jedoch nicht auf
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