Rechtsdruck
Titel
für den Film gewesen.
Wenn er dazu fähig gewesen wäre, hätte er zu weinen begonnen, doch
er konnte es nicht. Wie Blitzlichter tauchten Bilder von ihm als kleinem Jungen
auf, in der Werra badend.
Sei vorsichtig, Justus, die Strömung ist zu stark, rief die Großmutter
aus dem Hintergrund.
Es roch nach Flieder, und um ihn herum summten Bienen. Das Gras unter
seinen Füßen war warm und weich, ganz anders als das, was in der Gegenwart und der
Zukunft auf ihn wartete.
Frank Weiler. Er hätte sich nie mit diesem Typen einlassen dürfen.
Von Anfang an hatte er seine Zweifel, doch der Plan des koksenden Geschäftsmannes
war eigentlich genial.
Ich will wissen, wie es ist, einen umzubringen, und dadurch bist du
einen los, der dir im Weg liegt.
Was ist schon ein genialer Plan wert, wenn einer der Ausführenden die
Nerven verliert?
Weiler, du kleines Arschloch, warum musstest du auch der Polizei alles
erzählen?
Verhaftung, Gerichtsverhandlung, Verurteilung, Strafanstalt. Die größtmögliche
öffentliche Demütigung. Gebauer hatte während seiner Zeit als Anwalt viele Menschen
erlebt, die diesen Weg gegangen waren. Er hatte Mandanten im Gefängnis besucht und
war immer froh gewesen, wenn sich die großen Rolltore hinter ihm geschlossen hatten
und er auf der anderen, der richtigen Seite der Mauer stand. In Zukunft würde er
…
Nein, das halte ich nicht aus.
Es muss einen Ausweg geben, es gab immer einen Ausweg, und auch jetzt
gibt es einen Ausweg. Es muss …
41
Hain wollte den letzten Schritt um den Schreibtisch gehen, als Gebauers
rechte Hand nach vorne glitt, blitzschnell eine der Schubladen aufzog, darin verschwand,
und mit einer kleinen Pistole wieder auftauchte und auf ihn zielte.
Der Oberkommissar ließ die Metallbügel fallen und trat zwei Schritte
zurück. »Machen Sie keinen Scheiß, Herr Gebauer«, sagte er mit erhobenen Händen
und leiser, unaufdringlicher Stimme. Lenz hob ebenfalls die Arme.
Der Jurist machte ein paar Bewegungen mit der Waffe in seiner Hand,
die vermutlich so etwas wie Entschlossenheit ausdrücken sollten. »Alles ist kaputt.
Sie haben es kaputtgemacht. Sie und Weiler, dieser Idiot. Hoffentlich werden sie
ihn im Gefängnis umbringen. Mich kriegen diese Asozialen auf keinen Fall in ihre
Hände.«
Damit drehte er die Pistole in seine Richtung und steckte sich den
Lauf in den Mund. Seine Hand fing an zu zittern, doch der Zeigefinger bewegte sich
nicht. Der gesamte Oberkörper des Mannes wurde von einem Schauer erfasst und Lenz
befürchtete, dass sich der Schuss allein wegen der Vibrationen lösen könnte, aber
der Knall blieb aus. Gebauer presste die Luft aus seinen Lungen, als ob ihm das
die endgültige Entscheidung erleichtern würde, nahm einen erneuten Anlauf, und wieder
versagten ihm die Glieder den Dienst. Aus seinem rechten Auge lief eine dicke Träne,
dann folgte eine aus dem anderen Auge. Große, dicke Tränen rollten dem selbsternannten
Retter des deutschen Volkes über die Wangen, als er abermals versuchte, den rechten
Zeigefinger zu krümmen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er war zu feige, seiner
ungewissen, dunklen Zukunft zu entfliehen.
Lenz stand aus dem Stuhl auf und ging langsam und mit kaum hörbaren
Schritten auf den Juristen zu, an dessen oberem Teil der Hose ein schnell größer
werdender, dunkler Fleck sichtbar wurde. Als Lenz die mittlerweile grotesk wirkende
Gestalt erreicht hatte, brach sie in lautes Gejammer aus. Der Hauptkommissar hob
den Arm, griff langsam nach der Waffe und zog sie Gebauer aus dem Mund, wobei ihm
ein wenig Speichel des verhinderten Selbstmörders über die Finger rann.
»Wenn Sie wieder so etwas planen und vielleicht ein wenig mutiger sind
als heute«, gab Lenz dem nun in seinen Stuhl zurücksinkenden, laut heulenden Expolitiker
und Strafgefangenen in spe mit auf den Weg, »müssen Sie vorher die Waffe entsichern.«
Damit deutete er auf einen kleinen Hebel an der linken Seite der Waffe,
und ließ sie danach in seiner Jackentasche verschwinden.
»Und nun die Hände nach vorne, bitte.«
Epilog
Justus Gebauer wurde ein halbes Jahr nach den geschilderten Ereignissen
in einem aufsehenerregenden Indizienprozess zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt,
gegen die sein Anwalt in Revision gegangen ist. Im und vor dem Gerichtssaal waren
während des Prozesses Kamerateams aus aller Herren Länder anwesend. Der Jurist schwieg
während der gesamten Verhandlung und verzichtete auch auf das ihm zustehende
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