Rechtsdruck
wandte er sich von seiner Familie ab und verließ ohne ein weiteres
Wort die Wohnung.
*
Demet Bilgin saß auf dem abgewetzten, alten Sofa im Wohnzimmer und
weinte. Emre stand in der Tür zum Flur, sah seine Mutter mitleidig an, und hätte
seinem Vater, der ihr gegenübersaß, am liebsten ein Messer in den Rücken gerammt.
»Er ist kein guter Junge«, zischte Gökhan Bilgin. »Er ist nicht mehr
der Junge, den wir großgezogen haben.«
»Aber was soll er denn machen?«, warf seine Frau ein. »Wenn er sich
doch so gerne selbstständig machen will? Die Bank gibt ihm kein Geld, das weißt
du.«
»Er hätte weiter bei uns arbeiten können, das habe ich ihm immer gesagt«,
widersprach Bilgin. »Aber nein, der Herr Sohn ist ja etwas ganz Besonderes, der
hat es nicht nötig, Hosen zu kürzen oder Reißverschlüsse einzunähen. Das ist unter
seiner Würde.«
»Aber Gökhan, das ist doch nicht wahr. Er hat damals aufgehört bei
dir zu arbeiten, weil ihr euch immer gestritten habt, nicht, weil es ihm nicht gefallen
hätte, ein Änderungsschneider zu sein. Er ist nicht gerne fortgegangen, aber er
hatte keine andere Wahl.«
Bilgin funkelte seine Frau feindselig an. »Willst du damit sagen, dass
ich schuld daran bin, dass er weggegangen ist?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Schuld ist niemand an der ganzen Sache.
Aber auch du hättest auf ihn zugehen können. Und dass er von klein auf arbeiten
musste, das ist nicht gelogen, das ist die Wahrheit.«
»Ach, so ist das«, echauffierte sich der Schneider. »Jetzt bin ich
an der Sache schuld und soll das Haus meiner Eltern verkaufen und ihm das Geld geben.
Das kann nicht dein Ernst sein, Demet.«
»Warum denn nicht? Was wäre so schlimm daran?«
Gökhan Bilgin sah seine Frau an, als habe sie ihm mit der Trennung
gedroht. »Vergiss bitte nicht, mit wem du sprichst. Und vergiss nicht, dass wir
von meinem Elternhaus reden.«
Demet Bilgin griff nach der Packung Papiertaschentücher auf dem Tisch,
zog ein frisches heraus, und putzte sich damit die Nase. »Aber du hast doch erst
neulich zu mir gesagt, dass du nicht weißt, was du mit dem Haus und dem Grundstück
machen sollst. Seit dem Tod deiner Eltern sind wir nicht mehr dort gewesen, und
die Miete, die es einbringt, ist kaum der Rede wert. Die wird fast völlig von den
Steuern und den Kosten der Instandhaltung aufgefressen. Neulich das Dach, dann das
Badezimmer, und bestimmt ist auch bald wieder ein neuer Anstrich fällig.«
»Immerhin haben wir die Sicherheit«, erwiderte Bilgin trotzig, »dass
wir immer ein Dach über dem Kopf haben, egal, was aus uns werden wird.«
»Hör auf«, gab seine Frau erregt zurück, »das ist doch Unsinn. Weder
du noch ich noch der Junge wollen in der Türkei leben. Wir leben hier in Deutschland,
und so soll es auch bleiben. Vergiss nicht, dass du es in der Türkei bei allem,
was du so tust, viel schwerer haben würdest als hier in Deutschland. Bei allem!«
»Wir können überall leben, Demet«, widersprach er.
»Natürlich könnten wir überall leben, aber können wir es auch so gut
wie hier? Bist du da ganz sicher?«
»Bestimmt.«
Sie knüllte das Taschentuch zusammen und ballte die linke Hand zusammen.
»Stimmt es, dass du das Haus dem Imam schenken würdest?«
Bilgin kniff die Augen zusammen. »Nein, ja …«, druckste er herum. »Das
Geld, das der Verkauf einbringen würde, wäre ein schöner Beitrag zum Bau der neuen
Moschee. Aber …«
»Du würdest also«, unterbrach sie ihn barsch, »wirklich lieber den
Bau der Moschee unterstützen, als deinem eigenen Sohn zu helfen, eine Schneiderei
zu eröffnen?«
Bilgin schüttelte den Kopf. »Kemal ist nicht mehr mein Sohn. Das ist
vorbei.«
6
Der abgetrennte Raum des Restaurants mit dem merkwürdigen Tiernamen,
in dem sich die juristische Elite Nordhessens an diesem Abend traf, bot einen herrlichen
Blick über die Lichter der verschneiten Stadt. Der illustre Kreis, der sich dort
versammelt hatte, bestand aus Rechtsanwälten, Richtern, Staatsanwälten und einigen
Hochschullehrern. Nach dem Essen zündete sich Herbert Basthoff, Richter am Landgericht
Kassel, Mitinitiator und so etwas wie der nie offiziell gewählte Vorsitzende der
Runde, eine Zigarre an, erhob sich von seinem Platz, schlug sacht mit dem Zigarrenschneider
an das Cognacglas in seiner Hand, und bat um Ruhe.
»Liebe Kollegen«, hob er an, »es ist mir eine große Freude, euch, auch
wenn es etwas später geschieht als normal, zu unserem Quartalstreffen zu
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