Rechtsdruck
auf dem hemmungslosen Austausch
von Körperflüssigkeiten, nicht mehr.
Nach einer kurzen Phase des Kennenlernens vermählten sich die gerade
18-jährige, überaus schüchterne Demet, die aus einem Nachbardorf der Familie in
Anatolien stammte, und der mittlerweile sehr gut deutsch sprechende Gökhan kaum
zwei Monate später. Sie bezogen eine Wohnung im gleichen Haus, in dem seine und
noch einige andere türkische Familien wohnten, und wurden gute, angesehene Mitglieder
der größer und größer werdenden anatolischen Gemeinschaft Kassels. Gökhans ganzer
Stolz war ihr Ende 1979 geborener Sohn Kemal, benannt nach seinem Großvater; danach
kamen im Abstand von jeweils zwei Jahren drei weitere Kinder, allesamt Mädchen.
Die Familie hatte durch die recht gut laufenden Geschäfte in der Schneiderei ihr
Auskommen, und als sein Vater im Frühjahr 1995 nach einem leichten Schlaganfall
mit seiner Frau zurück in die Türkei wollte, übernahm der Sohn das Geschäft. 1998
wurde Demet überraschend ein fünftes Mal schwanger und gebar im Sommer 1999 Emre,
den Nachzügler.
Während all dieser Jahre war Gökhan kein besonders politischer oder
religiöser Mensch gewesen. Er war darauf bedacht, nicht aufzufallen, und möglichst
mit allen Menschen gut auszukommen, ganz egal ob sie Türkisch mit ihm sprachen oder
Deutsch.
Dann kamen der September 2001 und die Anschläge auf das World Trade
Center in New York. Gökhan war in seiner Schneiderei und flickte gerade die Jeans
einer jungen Frau, als der wie immer im Hintergrund laufende türkische Fernsehsender
sein Programm unterbrach und auf die Bilder von CNN schaltete. Der Türke, der mittlerweile
auch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, ließ die alte Pfaff-Nähmaschine zum
Stillstand kommen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm, wo
in der x-ten Wiederholung ein Flugzeug wie in Zeitlupe in einem der Türme einschlug
und ihm damit das Rückgrat brach, was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch niemand ahnte.
Fassungslos betrachtete der Schneider die Vorgänge und war zutiefst schockiert über
das, was ihm live aus New York übertragen wurde. Er sah, wie sich Menschen, die
keinen anderen Ausweg sahen, aus den Wolkenkratzern fallen ließen und mehrere hundert
Meter zu Boden und in den sicheren Tod stürzten. Und er wurde Augenzeuge der bis
dahin größten Katastrophe des neuen Jahrtausends, als die Türme schließlich in sich
zusammenfielen.
In diesen Stunden veränderte sich etwas in Gökhan Bilgin. Er dachte
zwar an die vielen Menschen, die an diesem Tag in Amerika gestorben waren, doch
er konnte kein Mitleid mit ihnen empfinden. Seine Gedanken kreisten vielmehr um
die vermeintlichen Hintergründe der Anschläge. Und so stellte er sich wieder und
wieder die Frage, was die Amerikaner getan haben mussten, damit ihnen diese überaus
böse Bestrafung zuteilwurde. Eine erste Antwort fand er während eines Gespräch mit
einem Kunden, der ihm von Gerüchten und Berichten im Internet erzählte, dass die
amerikanischen Geheimdienste selbst die Drahtzieher der unglaublichen Ereignisse
seien. Natürlich, setzte der Mann mit dem Brustton der Überzeugung hinzu, seien
auch die Zionisten, also die Israelis, beteiligt gewesen.
Dieser Gedanke erschien dem Schneider aus der Kasseler Nordstadt zunächst
völlig abwegig, doch viele weitere Gespräche und die ersten Moscheebesuche seit
mehr als 25 Jahren revidierten seine Ansichten nachhaltig. Und als dann 2003 der
Einmarsch der westlichen Alliierten im Irak begann und wenig später die Taliban
in Afghanistan angegriffen wurden, radikalisierte sich seine Haltung mehr und mehr.
Der Anatolier, der sich nie etwas aus dem Koran und der damit verbundenen Lehre
gemacht hatte, fing an, sich intensiv mit den Grundlagen des Islams zu beschäftigen.
Beflügelt wurden seine neu gewonnenen Erkenntnisse durch einen Mann, der zu dieser
Zeit bundesweit Schlagzeilen machte und als ›Kalif von Köln‹ zu fragwürdiger Berühmtheit
gelangte. Dessen Hasspredigten, die er sich auf DVD beschaffte und mehr als gierig
in sich aufsog, bestärkten ihn in der Absicht, sein Leben von Grund auf zu überdenken.
Seine Frau und die Kinder, speziell die mittlerweile erwachsenen Mädchen,
betrachteten seine Veränderung mit zunehmendem Argwohn. Als er an einem Nachmittag
im Sommer 2005 die Familie um sich versammelte und ihr erklärte, dass er ab diesem
Tag streng nach den Regeln eines guten Moslems leben wollte, kam es zum Eklat. Die
jungen Frauen, von
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