RECKLESS HEARTS
sein Hinterkopf heftig blutete und er stumm und zusammengesackt auf der Couch saß. Vielleicht war er ja tot? Selin verkrampfte bei dem Gedanken. Was, wenn sie wegen Mordes ins Gefängnis musste oder wegen Totschlags oder zumindest wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge oder wie das hieß?
Mit kalten Fingern massierte sie ihre Schläfen und bestellte ein Mineralwasser. In ihrer Stirn begann es zu pochen. Und plötzlich wurde ihr mit heftigster Deutlichkeit bewusst, dass sie ihr Leben, so wie es für viele Jahre gewesen war, verlassen hatte und es kein Zurück mehr geben würde. Dabei spielte es keine Rolle, welche Konsequenzen sie erwarteten oder was von nun an geschehen würde. Und endlich dämmerte es ihr, dass sie um ein neues Leben, ein anderes Leben, würde kämpfen müssen.
»Kann ich hier irgendwo telefonieren?«, fragte sie den Barkeeper mit leiser Stimme, während ihr Inneres immer wieder unkontrolliert bebte, als würde sie frösteln.
»Ne, das Telefon ist leider abgemurkst worden.« Der Barkeeper zog seine dicken Augenbrauen hoch. »Du kannst mein Handy benutzen, wenn du‘s kurz machst.« Er legte es ihr mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck hin und widmete sich wieder dem Gläserpolieren. Selin starrte einige Minuten auf das neumodische Ding in ihrer Hand und dann nach draußen auf die Straße, sah aber nur noch Sabris blutenden Hinterkopf. Sie konnte vor Anspannung und Widerwillen kaum denken. Diese eine Sache musste erledigt werden, sie schuldete es ihrem Gewissen. Um von ihrem Entschluss nicht wieder abzukommen, tippte sie mit butterweichem Finger, so schnell, wie sie nur konnte, die Nummer ihrer Schwiegereltern ein.
»Ich bin‘s, Selin«, räusperte sie ins Handy. Ihr »Onkelschwiegervater« war dran. »Kizim ne var bu saate?«, murmelte er genervt, was soviel hieß wie: »Mädel, was gibt‘s denn so spät noch?« Selin zögerte, der Widerwille machte sich auch in ihrer Kehle bemerkbar. Die Lippen zusammengepresst, erzählte sie in stolpernden, deutschtürkischen Stakkatosätzen, was geschehen war, dass sie aber nichts über den Ausgang wisse und es gut wäre, wenn jemand bei Sabri vorbeischauen würde … Sie schluckte und beendete die Verbindung, bevor ein Schwall an verzweifelten Beschimpfungen und Beleidigungen sie erreichen konnte. Einen kurzen Moment lang sah sie der Welt entrückt auf das fremde Handy, dessen Display ihr in einem grellen, türkisblauen Ton entgegenleuchtete, bevor es erlosch. Sie atmete mehrmals tief durch und wusste, es war alles real, das alles passierte wirklich.
***
Sabris entsetzte Eltern, sein ein Jahr älterer Bruder Basri, Onkel Hüsseyin und dessen Nachbar Yilmaz waren allesamt herbeigeeilt und hatten mit vereinter Wucht die Wohnungstür eingetreten. Das Schlimmste erwartend stürzten sie wie aus einer Baggerschaufel in den Flur. Die Mama hielt sich gleich jammernd und japsend die Augen zu, der Papa machte vor lauter Sorge ein bizarr verzerrtes Gesicht und rief krächzend Sabris Namen, und der Rest schob sich gegenseitig hektisch und brummend ins Wohnzimmer, wo sie das arme Opfer dann auch schnell fanden.
Der dicke Sabri saß aufrecht und regungslos auf der Couch, presste einen Beutel mit Eiswürfeln gegen sein verletztes Köpfchen und blickte ziemlich verkniffen auf den Fernseher, dessen Ton er ausgeschaltet hatte. Sein familiärer Sturmtrupp stand für einige Sekunden ebenfalls wie schockerstarrt da, um dann wild durcheinanderzureden und sich um ihn herum zu drängeln.
»Junge, was hat sie bloß getan, bu hayin kari, dieses fiese Weib«, rief der Papa hemmungslos gestikulierend. »Zeig doch mal! Was ist mit deinem Kopf? Du hast ja überall Blut dran, großer Gott, was hat sie mit dir gemacht, diese Verrückte, du musst ins Krankenhaus, Sabri, oglum, mein Sohn, da muss ein Doktor gucken, was für eine Schande, ne rezillik be …«
Und gleichzeitig jammerte die Mama: »Oh, oh, oh, mein armes Bärchen ... Die reiß ich in Stücke, diese Hexe, was glaubt die denn? Die ist ja völlig irre geworden. Was war denn bloß los, mein armer Liebling? Hattet ihr Streit oder was, ha söyle bakim, nun sag schon? Du hast sie doch … nicht etwa geschlagen?« Sie bedeckte mit einer Hand theatralisch ihren Mund und riss dabei die Augen auf.
Sabri stieß einen entnervten Seufzer aus.
Er hatte noch nie irgendjemanden geschlagen und schon gar nicht seine Selin. Er hatte sie einige Male angebrüllt, ja, wenn sie ihn mal wieder eiskalt ignorierte,
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