Reckless - Lebendige Schatten
Tor!«, sagte er zu dem Wassermann. Vielleicht war Reckless schon mit der Armbrust auf dem Rückweg. Aber Eaumbre schüttelte den Kopf.
»Nein, danke!«, flüsterte er. »Ich war lange genug der Türsteher. Gehört mir alles, was ich finde?«
»Solange es nicht die Armbrust ist.«
Das schuppige Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln.
»Stimmt. Das hatte ich vergessen. Eine Armbrust ist nicht das, was du brauchst«, raunte Nerron. »Aber du wirst hier bestimmt auch Schätze finden, die du einem Mädchen zu Füßen legen kannst. Ich bin sicher, sie werden für ein Dutzend von ihnen reichen.«
Der sechsäugige Blick wurde eisig. »Wir lieben immer nur eine. Ihr ganzes Leben lang.«
»Sicher. Nur dass sie in eurer Obhut nicht allzu lange leben.« Nerron trat auf den ersten Korridor zu und lauschte hinein. Nichts. Aber aus den nächsten beiden drangen die Stimmen der Toten. Offenbar hatten Reckless und die Füchsin sich getrennt. Man hatte keine Zeit zu verlieren, wenn einem der Tod in der Brust nistete.
Der Wassermann verschwand ohne ein Wort in dem ersten Korridor. Nerron entschied sich für den linken.
61
AM ZIEL
J acob war schon in vielen verwunschenen Schlössern gewesen. Jede Tür konnte Gefahr bedeuten, jeder Flur in einer Falle enden. Treppen verschwanden. Wände öffneten sich. Aber nicht hier. Offene Türen, Säle, Höfe. Guismunds Schloss atmete ihn ein wie der Schlund eines Tieres, in dessen steinernen Eingeweiden die Vergangenheit wie ein unverdauliches Gift gärte.
Pferde scharrten in leeren Stallungen. Waffen klirrten auf verlassenen Höfen, über denen immer noch dunkle Wolken die Sterne verbargen. Kinderstimmen schallten ihm aus verlassenen Kammern entgegen. Unsichtbare Hunde knurrten ihn an. Und immer wieder hallten Schreie durch die finsteren Gänge und Säle. Angstschreie. Schmerzensschreie … Jacob glaubte, Guismunds Wahnsinn wie Schmutz auf der Haut zu spüren.
Er fand Räume, die bis zur Decke mit Schätzen gefüllt waren und Waffenkammern mit Rüstungen und so kostbaren Schwertern, dass jedes einzelne genug eingebracht hätte, um Valiants Burg zu renovieren, aber Jacob würdigte sie kaum eines Blicks. Wo war die Armbrust?
Er fragte sich, ob er besser einen der anderen Korridore genommen hätte, und blickte immer wieder auf die Kerze in seiner Hand, aber ihre Flamme brannte unbeirrt. Fuchs hatte ebenso wenig Glück wie er.
Du musst Dich beeilen, mein Freund.
Du hättest den Goyl erschießen sollen .
Er fuhr ein Dutzend Mal herum, weil er glaubte, Schritte hinter sich zu hören, aber alles, was ihm folgte, waren die Geister, die er geweckt hatte. Vielleicht war das Guismunds Zauber: dass sie endlos durch sein Schloss irren würden, bis sie sich in seiner Vergangenheit verloren hatten und selbst zu einem der Gespenster wurden, deren Stimmen sie verfolgten.
Eine weitere Tür.
Offen wie die anderen.
Der Saal dahinter schien einmal der Audienzsaal gewesen zu sein. Die Fliesen waren abgetreten von unzähligen Stiefeln und der Ruß längst verloschener Fackeln klebte auf dem verwitterten Putz. Jacob spürte Zorn wie beißenden Rauch, Verzweiflung, Hass. Die Stimmen flüsterten und raunten, gedämpft von Furcht.
Weiter, Jacob.
Die Tür am Ende des Saals trug Guismunds Wappen.
Er trat hindurch – und holte tief Atem.
Er war am Ziel.
Guismunds Thronsaal beschwor die Vergangenheit nicht durch Stimmen. Jacob hörte nur das Echo der eigenen Schritte in der Stille widerhallen, aber wie in der Gruft erweckten die Bilder auch hier Guismunds verlorene Welt an Wänden und Decke zum Leben. Schwärme von Irrlichtern lösten die Farben aus der Dunkelheit. Schlachtfelder, Schlösser, Riesen, Drachen, eine Armee von Zwergen, eine untergehende Flotte, die Stadt, die draußen zerfiel, mit Menschen gefüllt. Die Fresken waren mit solcher Meisterschaft gemalt, dass Jacob für ein paar Atemzüge vergaß, weshalb er gekommen war. Vor allem das Bild an der linken Wand ließ ihn innehalten. Eine Schar von Rittern preschte mit gezogenen Schwertern durch einen silbernen Torbogen. Die Waffenröcke, die sie trugen, waren weiß wie die von Guismunds Rittern, und das Emblem darauf war ebenfalls ein rotes Schwert, aber darüber prangte ein rotes Kreuz … Wo hatte er das schon gesehen? Die Schwertbrüder, Jacob . Ein Ritterorden seiner Welt, aufgelöst vor mehr als achthundert Jahren, nachdem er weite Teile Nordeuropas unsicher gemacht hatte … Jacob blickte auf den Torbogen. Er war mit
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