Red Rabbit: Roman
während der rund einstündigen Fahrt ins Büro über das Autoradio. Hier und jetzt konnte er sich mit der Lektüre von Wirtschafts- und Finanzthemen am besten entspannen. Das britische Blatt war in vielerlei Hinsicht anders als das Wall Street Journal , doch gerade die Unterschiede fand Ryan besonders interessant. Sie zeigten bekannte Probleme aus anderer Perspektive und führten ihm so neue Lösungen vor Augen. Außerdem war die Lektüre natürlich sehr informativ. Auf diesem Wege erfuhr er von finanziellen Möglichkeiten hier in Europa, die darauf warteten, genutzt zu werden. Vielleicht ließ sich ja auch für ihn en passant ein bisschen zusätzliches Geld verdienen. Er betrachtete sein CIA-Engagement nach wie vor als eine Art Abstecher oder Umweg, zumal es ihm immer noch nicht gelungen war, eine konkrete Ausrichtung für sein Leben ins Auge zu fassen. Stattdessen lebte er nach der Devise, eine Karte nach der anderen auszuspielen.
»Heute hat Dad angerufen«, sagte Cathy, ohne den Blick von ihrer Fachzeitschrift zu heben, dem New England Journal of Medicine , einem von insgesamt sechs Abonnements, die sie unterschrieben hatte.
»Was hat er gewollt?«
»Er hat nur wissen wollen, wie es uns und den Kindern geht, das Übliche halt, nichts Besonderes«, antwortete Cathy.
Ryan verkniff sich die Frage, ob Joe denn kein Wort über ihn verloren habe. Joe Muller, der Vize bei Merrill Lynch, war seinem Schwiegersohn immer noch nicht grün, hatte der ihm doch die Tochter entführt und der Finanzwelt den Rücken gekehrt, um an einem College zu unterrichten und dann auch noch mit Spionen Katz und Maus zu spielen. Joe hatte für Regierungsvertreter und Staatsdiener nicht viel übrig. Er hielt sie für Schmarotzer, die von
den Erträgen der Arbeit anderer lebten. Jack konnte dies bis zu einem gewissen Grad nachempfinden, doch es musste ja auch solche geben, die bereit waren, sich um die Tiger in der Welt zu kümmern, und einer davon war eben John Patrick Ryan. Auf Geld war Ryan genauso aus wie andere auch, aber es war für ihn nur Mittel zum Zweck und hatte keinen Wert an sich. Es war wie ein gutes Auto, das einen an schöne Orte brachte. Dort angekommen, wollte man nicht auch noch die Nacht im Auto verbringen. Joe dachte anders und versuchte nicht einmal, jene zu verstehen, die gegenteiliger Ansicht waren. Andererseits liebte er seine Tochter und hatte sich ihr und ihrem Berufswunsch nie in den Weg gestellt. Dass sich eine Frau um Kranke kümmerte, passte wohl in sein Weltbild. Doch was ein richtiger Mann war, der musste Geld ranschaffen.
»Nett von ihm«, murmelte Ryan hinter seiner Zeitung. Die japanische Wirtschaft machte keinen guten Eindruck auf ihn, obwohl der Kommentator ihr im Editorial einen Aufschwung prophezeite. Nun, es hatten sich auch schon andere geirrt.
Juri Andropow kam in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Er hatte schon weit mehr als sein übliches Quantum an Marlboros geraucht, allerdings bewusst darauf verzichtet, mehr als ein Glas Wodka zu trinken, nachdem er von einem Empfang in der spanischen Botschaft nach Hause zurückgekehrt war. Ein vollkommen überflüssiger Besuch und reine Zeitverschwendung. Spanien war der NATO beigetreten und hatte dank einer überaus effektiven Spionageabwehr all seine, Andropows, Versuche zur Infiltration der spanischen Regierung zunichte gemacht. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte den Königshof zu unterwandern versucht. Höflinge waren ja bekannt für ihre Geschwätzigkeit, und der neu inthronisierte Monarch war von der gewählten Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach bestens unterrichtet, und sei es nur aus Liebedienerei. Andropow hatte ein wenig am Wein genippt, ein paar Kanapees probiert und am üblichen Smalltalk teilgenommen. Ja, ein prächtiger Sommer, nicht wahr? Manchmal fragte er sich, ob sein Aufstieg ins Politbüro solche Zumutungen tatsächlich aufwiegen konnte. Er hatte kaum mehr Zeit, ein Buch in die Hand zu nehmen, seine tagtägliche Arbeit und die diplomatischen und politischen Pflichten wuchsen ihm über den Kopf hinaus. Er ahnte jetzt, was es bedeutete,
eine doppelt belastete Frau zu sein. Kein Wunder, dass Frauen ihren Männern gegenüber häufig so zickig und gereizt waren.
Und was ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, war dieser Warschauer Brief. »Wenn die Regierung in Warschau ihre verwerfliche Unterdrückung des Volkes fortsetzt, werde ich mich gezwungen fühlen, mein Pontifikat niederzulegen und an die Seite meines
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