Red Rabbit: Roman
verurteilt. Nicht auszudenken die Katastrophe, wenn ein solcher Versuch tatsächlich unternommen und scheitern würde.
Vielleicht empfahl es sich, diplomatische Kontakte zu nutzen und einen Vertreter des Außenministeriums nach Rom fliegen zu lassen, wo er versuchen konnte, Karol in einem vertraulichen Gespräch dazu zu überreden, von seiner Drohung Abstand zu nehmen. Aber womit würde er einem solchen Begehren Nachdruck verleihen können? Mit einer unverhohlenen Morddrohung etwa? Wohl kaum. Die Aussicht darauf, als Märtyrer dereinst heilig gesprochen zu werden, würde den Papst in seinem Entschluss nur bestärken. Er würde darin wahrscheinlich eine vom Teufel zugestellte Einladung in den Himmel sehen und mit Freude einwilligen. Nein, einem solchen Mann konnte man nicht mit dem Tod drohen. Ebenso wenig taugte die Drohung, sein Volk büßen zu lassen. Er würde umso schneller zurückzukehren versuchen und seinen Landsleuten Beistand leisten. Und vor der Welt würde er dann noch heldenhafter dastehen.
Seine an die Regierung in Warschau gerichtete Drohung war ein wirklich cleverer Schachzug und als solcher aller Anerkennung wert – das räumte Andropow bereitwillig ein. Aber es gab auch schon eine bestimmte Antwort darauf: Karol würde bald selbst herausfinden müssen, ob sein Gott tatsächlich existierte.
Gibt es einen Gott? Andropow stellte sich die uralte Frage, die schon so viele verschiedene Antworten hervorgerufen hatte, bis sie endlich von Marx und Lenin abschließend gelöst worden war. Nein, dachte Juri Wladimirowitsch, sich auf eine andere Vorstellung einzulassen kam für ihn nicht mehr in Frage. Nein, es gab keinen Gott. Menschliches Leben fand ausschließlich im Hier und Jetzt statt, und wenn es endete, war auch wirklich Schluss, weshalb es sich empfahl, das Beste aus diesem Leben zu machen und das, was es zu bieten hatte, bis zur Neige auszukosten. Das war Andropows Devise: alle erreichbaren Früchte zu pflücken, und wenn es sein musste, mit Hilfe einer Leiter.
Versuchte Karol an dieser Gleichung herumzupfuschen? Versuchte er an der Leiter zu rütteln? Oder gar am Baum? Nun, wenn diese Frage nicht ein bisschen zu weit führte …
Andropow fuhr in seinem Sessel herum, schenkte sich aus einer Karaffe Wodka ein und nippte nachdenklich am Glas. Karol versuchte, an den Grundfesten der kommunistischen Welt zu rütteln und den Menschen weiszumachen, dass es etwas gab, woran zu glauben lohnender sei. Damit drohte er das revolutionäre Werk von Generationen zunichte zu machen. Nein, das konnte er, Andropow, nicht zulassen. Dem musste er mit aller Entschiedenheit Einhalt zu gebieten, und weil sich Karol nicht beruhigen lassen würde, musste er ein für alle Mal aus dem Verkehr gezogen werden.
Das zu tun war bestimmt nicht einfach und nicht ohne Gefahr. Doch nichts zu tun war ungleich gefährlicher, für ihn, seine Genossen und das ganze Land.
Deshalb musste Karol sterben. Doch vorerst galt es, einen entsprechenden Plan auszuarbeiten, der dann dem Politbüro vorzulegen wäre. Doch dieses würde ihm nur dann die nötige Handlungsvollmacht erteilen, wenn der Plan Erfolg garantierte und bis ins Kleinste ausgetüftelt war. Nun, dafür gab es schließlich den KGB, oder?
5. Kapitel
NAHE DRAN
Frühaufsteher Juri Wladimirowitsch duschte und rasierte sich, zog sich an und saß schon vor sieben am Frühstückstisch. Für ihn gab es Speck und drei Rühreier, dazu eine dünn geschnittene Scheibe russisches Brot mit dänischer Butter. Der Kaffee war aus Deutschland importiert, wie übrigens die gesamte Kücheneinrichtung auch. Wie an jedem Morgen lag für ihn eine Ausgabe der Prawda parat, des Weiteren: ein kleiner Überblick über die Auslandspresse, eigens für ihn zusammengestellt und von KGB-Übersetzern übersetzt, sowie diverses Instruktionsmaterial, das in den frühen Morgenstunden in der Zentrale zusammengestellt und durch einen Boten um sechs in seiner Wohnung abgeliefert worden war. Für heute lag nichts Wichtiges an. Juri zündete sich seine dritte Zigarette an und trank seine zweite Tasse Kaffee. Alles Routine. Der amerikanische Präsident hatte ausnahmsweise einmal nicht mit dem Säbel gerasselt, was einigermaßen überraschend war. Vielleicht war er vor seinem Fernseher eingenickt, wie es auch Breschnew so häufig passierte.
Wie lange noch würde Leonid dem Politbüro vorstehen? fragte sich Andropow. Dass er von sich aus zurückträte, war auszuschließen. Das würden allein schon seine Kinder zu
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