- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
leben?
Sie erwiderte den Blick des Wolfs und überlegte, wie es wohl wäre, wenn sie einen Schritt vortrat. Die schönen gelben Augen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm … Und dieser Gedanke war wie ein Riss, der sich in ihrem Inneren auftat und weitete, so wie aus einem Felsspalt eine Schlucht wurde. Die Lösung war einfach und verblüffend. Sie spürte,
dass eine gewisse Vergeltung darin lag, wenn sie ihren Willen aufgab. Der Wolf würde nicht Valerie bekommen, denn sie war nicht mehr sie selbst.
Sie wollte sich dem Wolf ausliefern.
Sie trat auf die Tür zu. Es war überraschend leicht. Sie wollte gerade den entscheidenden Schritt tun, mit dem sie den heiligen Boden verließ, als Henry begriff, was sie vorhatte. Er hielt sie fest.
»Ich werde nicht zulassen, dass du mein Zuhause zerstörst«, sagte sie zu dem Wolf. »Ich werde mit dir gehen, um sie zu retten.« Ihre Stimme klang schrill und falsch, und sie hatte das Gefühl, dass sie von irgendwo außerhalb ihrer selbst kam. Sie hatte keine Angst vor dem, was kommen würde. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Die Welt war für sie nicht mehr Wirklichkeit.
Die Stille war ohrenbetäubend, während der Wolf auf sie wartete.
Und dann wurde der Bann durch eine Bewegung in der Menge hinter ihr gebrochen. Jemand kam von ganz hinten nach vorn, stolperte über die Knie und Bündel anderer.
Roxanne.
Roxanne hielt im Gehen den Kopf gesenkt. Valeries Herz setzte drei Schläge aus, als sie die schönen sonnuntergangsroten Haare sah. Den Wolf konnte sie ertragen. Aber nicht noch mehr Anschuldigungen von denen, die sie geliebt hatte.
»Ich werde nicht zulassen, dass du dieses Opfer bringst«, sagte Roxanne und stellte sich an ihre Seite.
Valerie sah ihre Freundin erstaunt an, wollte es nicht glauben. Roxanne nickte ihr kurz zu, die Augen voll Tränen.
Als Nächste trat Rose vor: »Ich auch nicht.« Sie sah
Valerie an und die Erinnerung an ihr schändliches Verhalten trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht.
Marguerite, beeindruckt vom Mut ihrer Tochter, folgte, und dann andere Dorfbewohner, einer nach dem anderen: der Schenkenwirt, die Färber, Holzhauer, Freunde ihres Vaters. Prudence war die Letzte, die sich ihnen anschloss, doch am Ende trat auch sie vor, gegen ihre bitteren Gefühle ankämpfend.
Daggorhorn schwang sich in die Lüfte, eine Schar von Vögeln, die gemeinsam ihre Flügel entdeckten.
Die Dorfbewohner erwachten aus einem Albtraum, hielten zusammen, errichteten eine Barriere gegen den Wolf. Doch es war auch eine Barriere gegen das Böse, das sie in sich hineingelassen hatten. Für ein paar Augenblicke war der Mittelpunkt des Universums hier, auf dem Kirchhof des Dorfes.
Damit hatte der Wolf nicht gerechnet. Er knurrte erzürnt, dem ersehnten Ziel so nahe und doch nicht imstande, es zu erreichen.
Der Mond war vom Himmel verschwunden. Der Morgen war da, und der Wolf durfte nicht länger säumen, da er sich sonst in seiner menschlichen Gestalt zu erkennen gab. Er warf einen letzten funkelnden Blick auf Valerie, dann jagte er mit einem zornigen Knurren davon.
Die Dorfbewohner atmeten auf, scheuten sich noch, einander anzusehen, den Bann zu brechen. Doch dann taten sie es und der Wolf blieb immer noch verschwunden. Sie hatten das Richtige getan und sie hatten es gemeinsam getan.
Nur Valerie sah, wie Solomon auf sie zukam, schlimmer noch als die Bestie selbst, unbändige Wut im Gesicht, entschlossen, die Rache einzufordern, auf die er ein Recht zu haben glaubte. Er hatte seine eine Hand gegen sie erhoben, und sie streckte ihm ihre entgegen, um sich zu schützen. Doch er hatte es auf ihren Kopf abgesehen, machte eine hohle Hand und stieß ihren Schädel mit aller Kraft gegen die Mauer. Ein Schauer ging durch die Menge der Dorfbewohner.
Dann packte er sie an den Haaren und riss ihr Gesicht hoch: »Du wirst trotzdem brennen, Hexe.«
Henry ging auf ihn los, und Solomon wirbelte herum, um ihn mit seinen verbliebenen Nägeln aufzuschlitzen.
Doch eine Peitsche kam ihm zuvor, pfiff elegant durch die Luft, schlang sich um seinen Arm und riss ihn zurück. Empört blickte sich Solomon um und sah, dass der Hauptmann mit finsterer Miene auf ihn zutrat.
»Bei Blutmond«, erinnerte der Hauptmann seinen Anführer, »ist ein gebissener Mann ein verfluchter Mann.«
Solomon hörte die Wahrheit, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch konnte er sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Meine Kinder werden Waisen sein.«
»Mein Bruder hatte auch Kinder«, erwiderte
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