Nächte im Zirkus
I
»Gotteswillen, Sir!« schrie Fevvers mit einer Stimme, die wie klappernde Mülleimer klirrte und klang. »Mein Geburtsort! Ich hab doch das Licht der Welt eben hier im alten verrauchten London erblickt! Ich steh ja nicht umsonst als Die Cockney-Venus auf den Plakaten, obwohl man mich genausogut als Die Helena des Hochseils ankündigen könnte, wenn man die ungewöhnlichen Umstände bedenkt, unter denen ich an Land gegangen bin - denn ich bin nicht durch die reguläre Zollkontrolle gegangen, liebe Zeit nein, ich bin - wie die schöne Helena! - ausgeschlüpft.
Ausgeschlüpft aus einem verdammt dicken Ei, und die Glocken von St. Mary-le-Bow haben geläutet dazu: Cockney durch und durch!«
Die Blondine brüllte vor Lachen, schlug sich auf den marmornen Schenkel, über dem ihr Morgenmantel auseinanderging, und warf aus ihren weiten, blauen, ungehörigen Augen dem jungen Reporter mit seinem aufgeschlagenen Notizbuch, seinem gespitzten Bleistift einen blitzenden Blick zu, als fordere sie ihn heraus: Wag’s nur, zu zweifeln! Dann fuhr sie auf ihrem kreiselnden Garderobenschemel herum (es war ein plüschbezogener Klavierhocker ohne Lehne, aus dem Probenzimmer entwendet) und grinste sich im Spiegel an, wie sie plötzlich sechs Zoll falsche Wimpern mit einer entschlossenen Geste und einem schnellen Ratschen von ihrem linken Augenlid riß.
Fevvers, die berühmteste Trapezkünstlerin der Zeit; ihr Slogan: »Gibt sie’s oder gibt sie’s nicht?« Und keinen Augenblick ließ sie es einen vergessen: Die doppelte Frage leuchtete auf Französisch in fußhohen Buchstaben von einem die ganze Wand bedeckenden Plakat, einem Souvenir ihrer Pariser Triumphe, das nun die Londoner Garderobe beherrschte. Das Plakat hatte etwas Hektisches, etwas angemessen Gewagtes, Stürmisches, dieses lächerliche Bild einer jungen Frau, die wie eine Rakete, huiiii! in einer Explosion erregten Sägemehls zu einem unsichtbaren Trapez hinaufschoß, irgendwo hoch in den hölzernen Himmeln des Cirque d’Hiver. Der Künstler hatte sich für eine Konterfeiung des Aufstiegs von hinten entschieden - Bäckchen in die Höh, sozusagen; hinauf steigt sie, hinauf, in steatopygischer Perspektive, und sie schüttelt diese riesigen roten und purpurnen Schwungfedern um sich aus, Flügel, die groß genug und stark genug sind, ein so großes Mädchen nach oben zu tragen. Und sie war ein großes Mädchen.
Offenbar schlug diese Helena in der Schulterpartie ihrem vermutlichen Vater nach, dem Schwan.
Doch diese berühmten, berüchtigten, so oft diskutierten Flügel, die Ursache ihres Ruhmes, waren nun für die Nacht unter dem schmutzigen Futter ihres babyblauen Satinmorgenrocks verstaut, wo sie als zwei befremdliche Schwellungen auffielen, die von Zeit zu Zeit unter dem engen Stoff zitterten, als sehnten sie sich danach, aufzubrechen. (»Wie macht sie das?« überlegte der Reporter.)
»In Paris, da haben sie mich l’Ange Anglaise genannt, den englischen Engel. Englisch und angelisch!«, erzählte sie ihm und deutete mit einem Kopfrucken auf jenes Lieblingsplakat, das - wie sie beiläufig bemerkte - auf den Stein gezeichnet worden war »von so einem Franzenzwerg, der gesagt hat, ich soll ihm auf sein Dingelchen pinkeln, sonst würde er die Kreide schön in der Tasche lassen, wenn Sie meine Ausdrucksweise verzeihen wollen.« Dann - »Schlückchen Schampus?« - zog sie mit den Zähnen den knallenden Korken einer eisgekühlten Magnum Champagner. Ein zischendes Kelchglas Sekt stand neben ihrem Ellenbogen auf dem Schminktisch, die noch gurgelnd-rülpsende Flasche lag nachlässig im Wasserkrug, in zerstoßenes Eis gepackt, das von einem Fischhändler besorgt worden sein mußte, denn hier und da glänzten ein, zwei Fischschuppen zwischen den Brocken. Und dieses zweimal benutzte Eis war doch auch sicherlich die Quelle des Frutti di mare-Aromas (etwas Fischiges wehte um die Cockney-Venus), das unter der heißen, wie festen Mischung aus Parfum, Schweiß, Schminke und scharfem Gasgeruch aus lecken Leitungen lag, die einem das Gefühl gab, die Luft in Fevvers’ Garderobe in einzelnen Klumpen einzuatmen.
Eine Wimpernleiste entfernt, eine noch an Ort und Stelle, so lehnte sich Fevvers ein wenig zurück, um die asymmetrische Pracht ihres Spiegelbildes mit distanziertem Wohlgefallen zu betrachten.
»Und nun«, sagte sie, »nach meinen Eroberungen auf dem Kontinent« (sie sagte: »cohtinoh«) »ist die verlorene Tochter nach London heimgekehrt, mein liebes London, das ich so mag.
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